GG 322
Hippocratis Aphorismorum genuina lectio, ab eruditis omnibus mire desiderata, Eorundem fidelis interpretatio, cum Galeni censura in eos omneis, qui minus erant absoluti. His accesserunt Adnotationes in Cor. Celsum, ne tanti viri authoritas officeret ijs, qui memoria essent Aphorismos complexuri. Trium Galeni de Diebus decretorijs librorum Epitome, quae & una est ex illis Adnotationibus. Per Ioannem Morisotum medicum. Basel: Johannes Oporin Oktober 1547.
Erst einmal, um 1527 in Hagenau herausgegeben von Janus Cornarius, waren die "hippokratischen" Aphorismen - eine Sammlung von Lehrsätzen, die wohl nicht von Hippokrates selber stammt - vor der Niederschrift unseres Textes im Jahre 1540 einzeln griechisch erschienen. Bis zum Jahr seines Druckes 1547 erschienen sie noch gleich sechs Mal: nochmals in Hagenau, nun mit einer Übersetzung von Cornarius um 1540, mit dem Kommentar des Antonio Musa Brasavolo von 1145 Folioseiten 1541 bei Froben und Episcopius, 1542 in Paris und 1543 bei Heinrich Petri in einem Sammeldruck mit der älteren Übersetzung des Nicolaus Leonicenus (die auch schon Cratanders Gesamtausgabe von 1526 enthalten hatte), im selben Jahr bei Oporin im Anhang an eine Schrift des Justus Velsius in dessen Übersetzung, 1544 bei Oporin mit einem gewichtigen Kommentar von Leonhard Fuchs (GG 320) und 1547 - Nachdruck der Pariser Ausgabe - in Lyon. Nur zwei Jahre nach der griechischen Gesamtausgabe des Cornarius in Basel von 1538 (GG 319) dürfte der Text unseres Druckes fertig vorgelegen haben, denn die Vorrede des Herausgebers und Übersetzers, des Arztes, Dichters und Mathematikers Jean Morisot aus Dôle, damals Hauptstadt der habsburgischen Freigrafschaft und Sitz einer Universität, datiert schon vom 1. Juli 1540. 1547 ist ebenfalls seine lateinisch-griechische Ausgabe der Paradoxa Ciceros (mit eigener griechischer Übersetzung!) bei Oporin erschienen, 1549 seine medizinischen Colloquiorum libri quatuor für seinen Sohn. Keine Schrift des göttlichen Geistes des Hippokrates sei bewundernswerter, beginnt er seine Vorrede an die Kandidaten der Medizin, zur Kürze des Lebens passender, einprägenswerter als die Aphorismen. Denn in ihnen werde die gesamte Medizin behandelt, reich an Inhalt, kurz an Worten. Sie sei im Abriss aus ihnen zu erlernen. Vollständig verderbt seien sie auf Galen (2. Jh. n. Chr.) gekommen. Dieser habe die unterschobenen gekennzeichnet, die echten durchgesehen und kommentiert, und unfertige kunstgerecht vollendet. Der Autor der Kommentare, die unter dem Namen des Oribasius (4. Jh. n. Chr.) überliefert seien, habe blindlings wiederum gestrichen, hinzugefügt und alles völlig durcheinandergebracht. Hätte er doch Galens Kommentare ins Lateinische übersetzt, die echten Aphorismen von den unterschobenen getrennt, Galens Urteile dazu. Dann hätten sich nicht so viele Irrtümer in die medizinische Literatur eingeschlichen und seine Standesgenossen würden seine Ausgabe dieser Neugeburt nicht so ungern sehen. Denn was wolle dieser Wagehals, dürften sie sagen, dieser Halbgebildete schon nach Gaza (die Übersetzung Theodorus Gazas ist zuerst, neben einer älteren, 1495 in Venedig erschienen) und Leonicenus (zuerst Ferrara 1509) noch leisten? ein neuer Übersetzer? ein Ödipus, der die Rätsel allein lösen wolle? Er habe wagen müssen, um nützen zu können oder wenigstens die Methode zu zeigen. Denn weder der alte Übersetzer noch Gaza noch Leonicenus noch sonst jemand hätte diesen Weg eingeschlagen, denn diese hätten einfach alles Griechische unter dem Namen des Hippokrates zusammengefegt und ohne Kritik übersetzt. Leonicenus habe manchmal die selbe Sache im Text anders übersetzt als im Kommentar. Gaza jedoch habe gar fast alles jenem Kommentator gestohlen. Doch von solchen Diebstählen werde er in seinem Werk mit dem Titel Horae succisivae - Überstunden - handeln. Was seine Übersetzung betreffe, könne man ihm kaum vorwerfen, dass er nach Kollation der griechischen Vorlagen, der lateinischen Übersetzer und des Kommentars Galens Fremdes entfernt, Echtes wiederhergestellt, Schwerverständliches erklärt, Durcheinandergeratenes geordnet, Verworrenes mit Sternchen gekennzeichnet, Unvollständiges ergänzt und schliesslich alles getreu - wie er meine - übersetzt habe. Oder die Unbekanntheit seines Namens? Es stamme alles aus Galen. Dessen Kommentare? Warum hätten all die Ärzte bisher nichts dazu bemerkt? Dass die Sache bedeutungslos sei? Doch die Aphorismen behandelten gerade das Wichtigste. Oder sei es bedeutungslos, dass er die nach Galen wirklich hippokratischen Aphorismen griechisch und lateinisch vorlege? Es könne jetzt kaum deren mehr geben als zu Galens Zeiten, und wenn es sie gäbe, würde dieser sie kaum anerkennen. Schliesslich weist Morisot die Medizinstudenten darauf hin, dass er treffende alte Übersetzungen nicht geändert habe; das habe ja auch er gerade erreichen wollen. Wenig habe er vom alten Übersetzer und von Leonicenus übernommen, etwas mehr von jenem Kommentator, fast nichts von Gaza. Hätte er doch die ganze Arbeit von einem von ihnen übernehmen können, er hätte seine Gesundheit weniger durch Stress und Nachtarbeit geschädigt.
Zwischen dem griechischen Text und der Übersetzung ist noch ein kurzes Nachwort eingefügt, in dem Morisot die Studenten darauf hinweist, dass er die Verbesserungen nicht mit Sternchen gekennzeichnet habe, damit nicht ein Ungetüm mit fast so vielen Sternchen wie Wörtern entstehe. Er wolle ihnen auch nicht die Schriften anderer nehmen, vielmehr erreichen, dass Hippokrates endlich in seiner Sprache und seine Worte spreche. Schliesslich weist der Typographus, nach einem Schlussepigramm Morisots, noch auf Druckfehler in Schlussepigrammen der griechisch-lateinischen Ausgabe der Paradoxa hin.
L e IV 22 Nr. 2
Bibliothekskatalog IDS
Signatur: Le IV 22:2