GG 377
Photii Patriarchae Constantinopolitani Nomocanonus, sive ex legibus & canonibus compositum Opus, quod merito ius Pontificium Graecorum voces: Una cum Annotationibus Theodori Balsamonis, Patriarchae postmodum Antiocheni: Nunc primum ex clariss. viri Bonifacii Amerbachii libraria, Henrici Agylaei auspicijs in Latium deductus, sive Latinitate donatus. Quo in Opere discere erit, quanto sacrati ordinis, qui dicitur, ius & ritus in Oriente, quam in Occidente, sinceriores fuerint. Tum, qua de causa multo magis evulgatur, ex eo cum alia Iuris civilis loca permulta, tum quod in Codice de aleae lusu est, restitui potest... Basel: Johannes Oporin 1561. Fol.
Erster Druck - und einziger im 16. Jahrhundert - eines Werkes des Patriarchen von Konstantinopel von 858 bis 867 und 877 bis 886 (dazwischen abgesetzt und verbannt) Photios. Seine Bibliotheke, auch Myriobiblon genannt, eine Sammlung seiner Notizen zu seiner Klassikerlektüre von seltenem Quellenwert ist erst 1601 zusammen mit einigen Briefen in Augsburg nach vier Handschriften aus Griechenland, Deutschland, Italien und Frankreich erschienen, sein Lexikon gar erst 1808. Selber von umfassender Bildung, lehrte er Logik, Dialektik, Philosophie, Mathematik und Theologie und war daneben erster Sekretär des Kaisers. Nachfolger des abgesetzten Patriarchen Ignatios, wurde er seinerseits 863 von Papst Nikolaus I. für abgesetzt erklärt. Hierauf vollzog er den Bruch mit der römischen Kirche, unterrichtete seine Amtskollegen im Osten hiervon in einer Enzyklika und forderte Kaiser Ludwig II. auf, Nikolaus abzusetzen. Die theologischen Schriften des Photios, der zu den bedeutendsten östlichen Theologen und den hervorragendsten Vertretern des byzantinischen Humanismus zählt, dienen hauptsächlich der Verteidigung der Autonomie seiner Kirche gegenüber Rom. Übersetzer und Herausgeber - der Druck ist zum Teil zweisprachig - dieser Sammlung des byzantinischen Kirchenrechts des Photius ist der niederländische Kalvinist Henricus Agylaeus (s'Hertogenbosch 1532/33 - Utrecht 1595). Nach dem Studium der Rechte in Löwen 1547ff. floh er 1558 wegen religiöser Verfolgung aus s'Hertogenbosch und hielt sich in den folgenden Jahren zunächst in Deutschland, wo 1558 und 1560 zwei juristische Werke von ihm in Köln erschienen, dann in Frankreich, wo 1560 eines in Paris herauskam, in Basel und in England auf, bis er 1562 nach s'Hertogenbosch zurückkehrte; die letzten fünfzehn Jahre lebte er in Utrecht als Generalprokurator am Hofe. Während seines Basler Aufenthaltes - er hat sich hier 1561 auch als iuris consultus an der Universität immatrikuliert - hat er neben dem hier vorliegenden noch ein weiteres Werk zum byzantinischen Recht herausgegeben, in engem Kontakt zum Basler Rechtsgelehrten Bonifacius Amerbach. Beide hat er schon hochgestellten englischen Persönlichkeiten gewidmet, den einen der Königin, den hier vorliegenden dem Oberhaupt der englischen Kirche, Erzbischof Thomas Parker von Canterbury, mit Datum aus Basel vom 14. März 1561.
Wenn je jemandem eine Arbeit die nächste gezeugt habe, beginnt er die Widmung, ihm sei es so ergangen und ergehe es jetzt so. Anfänglich habe er sich die Reinigung der Novellen Justinians (der später - neu - zum Corpus iuris hinzugekommenen Gesetze) von überflüssigem Ballast und Verwirrungen vorgenommen und schon gemeint gehabt, in der Hälfte zu stehen, als er sich nicht nur in die Schranken seiner Rennbahn zurückgeworfen, sondern geradezu einem riesigen Meer ausgesetzt gesehen habe. Als er das ganze Corpus der Novellen griechisch habe erscheinen sehen (er muss die - nach Nürnberg 1531, Basel 1541 [GG 375], Paris 1542 und 1553 - nach neuer Handschriftenkollation 1558 bei Henri Estienne in [Genf] erschienene Ausgabe meinen), habe er leicht erkannt, nachdem er bisher an einem lücken- und oft fehlerhaften Text gearbeitet habe, dass er von neuem beginnen müsse. Dabei habe er die Ausgaben miteinander vergleichen müssen und die Zusätze zu der Haloanders ins Lateinische übersetzen. Als er diese Arbeit endlich hinter sich gehabt habe, habe der für seine Verdienste um die Öffentlichkeit berühmte und fein gebildete Bonifacius Amerbach, als er mit ihm darüber gesprochen habe, einen gewaltigen Band mit dem griechischen Rechtskanon hervorgeholt, dessen Inhalt nach Amerbachs Meinung seinem Vorhaben grossen Nutzen habe bringen können. Er habe ihn ihm von sich aus angeboten und, soviel er wolle, benützen geheissen. Und je länger er dessen System geprüft und seine einstige Bedeutung erkannt habe, umso besser habe es ihm zuzusagen begonnen; und als er dessen erstes Buch in etwa aus Büchern des westlichen Rechts, vor allem den Novellen, seinem Fachgebiet, habe bestehen sehen und seinen willkommenen Nutzen für seine Fachgenossen wie seine Notwendigkeit zur Beurteilung seines eigenen Vorhabens erkannt habe, habe er gefunden, dass ihm da gerade das zugeflossen sei, was er - sprichwörtlich - auszuschöpfen habe (es handelt sich um eine dicke Foliohandschrift des 13. Jahrhunderts mit dem griechischen Kommentar Balsamons zu den Canones der Apostel und der Konzilien und die letzte Seite sagt uns, dass der Rechtsgelehrte Johann Ludwig Iselin, ein Neffe Basilius Amerbachs und dessen Testamentsvollstrecker, sie als dessen Legat am 24. Februar 1593 - Bonifacius Amerbachs einziger Sohn war 1591 gestorben - dem Rat der Universität übergeben habe: heute A III 6; dass Amerbach diese Handschrift nicht nur besessen, sondern auch benützt hat, zeigt uns der mehrseitige pinax, der von seiner Hand ihr noch heute beiliegt). Und er habe gehofft, während des Drucks jener andern Arbeit (die Iustiniani Principis Novellae Constitutiones Latine sind im selben Monat März 1561 bei Johannes Herwagen d. J. erschienen [GG 376]) diese vollenden zu können, und deshalb diese Gelegenheit nicht ungenützt vorübergehen lassen. Er habe das Werk ins Lateinische übersetzt, das durch die Ungunst der Zeiten nicht einmal den Griechen mehr bekannt sei, nachdem es einst für göttlich und seine Worte für Weissagungen Gottes gegolten hätten. Der hochgelehrte Patriarch Photius habe den Geistlichen ein eigenes Recht verfasst, doch nicht aus eigener Erfindung, wie es im Westen einer getan habe, sondern aus den anerkannten alten Konzilsakten und Gesetzbüchern, und diesem den Namen Nomocanonus gegeben. Zuerst geringen Umfangs, sei es dann, wie das so geschehe, ins Ungeheure angewachsen. Zuerst habe Zonaras Kommentare zu den Konzilien geschrieben, die Johannes Quintinus kürzlich in der Bibliothek des Königs von Frankreich gefunden und woraus er den sog. Kanon der Apostel griechisch und lateinisch mit Kommentar herausgegeben habe (um 1090 - um 1160; die Ausgabe ist 1558 bei Andreas Wechel in Paris erschienen). Da dieser den Rest auf baldmöglichst versprochen habe, habe er sie weder hier übersetzen noch in alter Übersetzung herausgeben wollen, dies obwohl er in der Folge einige Stellen bei Quintinus bemängelt. Nach Zonaras habe Balsamon im Auftrag des Kaisers und des Patriarchen die Sammlung des Photius aus dem römischen Recht und den Konzilsakten ausführlich kommentiert, dabei angegeben, was aus den Basiliken stamme, was spätere Zutat oder Änderung sei (Theodoros Balsamon war neben Alexios Aristenos und Zonaras einer der drei grossen byzantinischen Kanonisten des 12. Jahrhunderts, der bekannteste von ihnen; gestorben nach 1195; Nomophylax, Diakon und Chartophylax an der Hagia Sophia in Konstantinopel, wo er auch als Patriarch von Antiocheia blieb). Dieses Werk sei aus westlicher Sicht dem des Photius vorzuziehen, da sein Inhalt, mit geringen Ausnahmen, hier bekannt sei, während sich bei jenem viel im Westen Unbekanntes finde. Immerhin lerne man hieraus die Überzeugungen und Meinungen der Menschen jener Zeiten kennen. Auch damals habe man schon die Klausel Konstantins, die die Herrschaft des Westens an Papst Sylvester übertrage, für echt gehalten. Er habe sie griechisch drucken lassen, damit die Gewitzteren heute sähen, was für grossartigen und kunstvollen Urkunden für diese gewichtige Sache man Glauben geschenkt habe (es wird denn auch schon im Titel auf diese Beigabe hingewiesen, was in protestantischen Gegenden den Verkauf des Druckes gewiss nochmals gefördert hat). Wer erkläre, sie sei zuerst lateinisch abgefasst worden, der zeihe Sylvester und seine Nachfolger einer riesigen Dummheit, dass sie die Urkunde nicht sorgfältigst aufbewahrt hätten; denn was man heute lateinisch in Händen habe, sei deutlich eine schlechte Übersetzung aus schlechtem Griechisch. - Bei Balsamon erfahre man klar und rasch, was in den Basiliken aus dem westlichen Corpus iuris warum übernommen, was warum ausgelassen worden sei. In der Folge kommt Agylaeus auf die Frage des Autors der Basiliken zu sprechen: laut Balsamon Kaiser Konstantin Porphyrogennetos - doch: der Sohn oder der Enkel des Makedoniers Basileios (867-886) ? in seinem heroischen Gedicht weise sie Balsamon aber auch Kaiser Leon dem Weisen zu (886-912). Mehrere Konstitutionen Leons wiesen ihn immerhin darauf hin, dass Basileios der Erbauer (architectus) der Basiliken sei und dass sie unter ihm und seinen Söhnen Konstantin (VII. Porphyrogennetos, 913-959) und Leon entstanden seien. - Seine Übersetzung habe er möglichst leichtverständlich abgefasst, was bei solchen Werken möglichst wortnah heisse. Wo das Griechische zu knapp sei, habe er ausführlicher werden müssen, um den Sinn wiedergeben zu können. Wörter, die er von sich aus beigefügt habe, habe er mit andern Typen drucken lassen (sie erscheinen kursiv in Klammern: [...]). So könne niemand etwas an der Zuverlässigkeit der Übersetzung aussetzen. Mehrdeutige und dem griechischen Recht eigentümliche neue Begriffe, die bis dahin in keinem Buch erschienen seien, habe er am Rand beifügen lassen, damit sie einem allfälligen Leser des griechischen Textes helfen könnten. Der Drucker mahne aber zum Abschluss. Weshalb er nun nur noch - als Ausländer und ihm Unbekannter - dem Erzbischof das Werk widmen wolle: vor etwa drei Jahren habe er sein Land in grossen Unruhen verlassen müssen und nach einer neuen Heimat Ausschau gehalten. Ihm gelegen sei einige Monate später im unbarmherzig erschütterten England die Ruhe eingekehrt und das habe ihn bewogen, sich ganz diesem zu ergeben, und er habe überlegt, wie er die Fürsten sich gewogen machen könne, dass ihm dies erlaubt werde. Und was gebe es Passenderes als dieses Geschenk: die Werke eines Kaisers und eines Patriarchen für eine Königin und einen Erzbischof?
Das Basler Exemplar hat Bonifacius Amerbach 1561 erhalten, wie sein datierter Eintrag zeigt; er und sein Sohn Basilius haben es auch studiert, wie einige Einträge und Korrekturen zeigen; beim Anfang von Titulus VIII mit der sog. Konstantinischen Schenkung (der Herrschaft über den Westen durch Kaiser Konstantin den Grossen an Papst Sylvester, die Lorenzo Valla und Ulrich von Hutten als Fälschung entlarvt haben) auf S. 45ff. liegt noch heute ein Lesezeichen aus der Zeit...: M d IX 7
Bibliothekskatalog IDS
Signatur: Md IX 7