GG 65
Turcograeciae Libri octo a Martino Crusio, in Academia Tybingensi Graeco & Latino Professore, utraque lingua edita. Quibus Graecorum status sub imperio Turcico, in Politia & Ecclesia, Oeconomia & Scholis, iam inde ab amissa Constantinopoli, ad haec usque tempora, luculenter describitur... Basel: Leonhard Ostein für Verlag Sebastian Henricpetris 1584. Fol.
Knapp zwanzig Jahre nach der Ausgabe seiner Gedichte bei Oporin im Jahre 1566 (GG 64) gibt der Tübinger Gräzist und Latinist Crusius eine neue Sammlung zeitgenössischer griechischer Texte in Basel heraus, nun, nach dem Tod Oporins bei Sebastian Henricpetri, der sie von Leonhard Ostein drucken lässt; dies nachdem ihm neben andern Freunden besonders auch Theodor Zwinger bei der Suche nach einem Verleger und Drucker für sein gewiss weder setzerfreundliches noch leicht verkäufliches Werkkonglomerat geholfen hatte, wie wir aus der Widmung eines Nachtrags erfahren (s. unten). Sie enthält in acht Büchern Texte verschiedenster Art in "reinem" und in "vulgärem" Griechisch (der Volkssprache der Zeit, Neugriechisch der Zeit) mit lateinischen Übersetzungen und Scholien zur griechischen Staats-, Kirchen- und Kulturgeschichte seit dem Fall Konstantinopels: 1. eine politische Geschichte Konstantinopels von 1391 bis 1578 mit einer Darstellung der alten Tracht der Kaiser. 2. eine volksgriechische Geschichte des Patriarchats von 1453 bis 1578, die Manuel Malaxos im April 1577 für Crusius niedergeschrieben hat, mit der Darstellung eines Patriarchen und mehreren Darstellungen in Holzschnitt von Bauten und Einrichtungen des Patriarchats sowie von Unterschriften von Kaisern und Patriarchen. 3. Briefe von Griechen von 1556 bis 1580, zuerst volksgriechische mit reingriechischer und lateinischer Übersetzung von Theodosios Zygomalas (Übersetzer ins Neugriechische u.a. des Rechtskompendiums Hexabiblos des Konstantin Harmenopulos) bzw. Crusius, dann reingriechische mit den entsprechenden Übersetzungen, schliesslich "gemischt-griechische", d.h. im Kirchenstil verfasste, dieser Teil mit Abbildungen von Sigeln und Unterschriften. 4. in verschiedenem Griechisch verfasste Briefe von Griechen von ca. 1550 bis 1580, diese nur mit lateinischer Übersetzung des Crusius und, wie alle Teile, mit seinen Scholien. 5. 62 Themato-Epistolae, d.h. Briefstoffe zur schulmässigen Ausarbeitung von Theodosios Zygomalas, rein- und volksgriechisch und mit lateinischer Übersetzung des Crusius. 6. die homerische Batrachomyomachie in volksgriechischer Übersetzung des Demetrios Zenon von Zakynthos und wieder lateinischer des Crusius sowie griechische Gedichte (reingriechische) des Crusius, mit in Konstantinopel angefertigter volksgriechischer Übersetzung des Symeon Kabasilas (und lateinischer des Crusius). 7. der griechische Briefwechsel zwischen Tübingen und Konstantinopel, d.h. zwischen verschiedenen Tübinger Professoren (u.a. Crusius) und dem Patriarchat, wieder mit lateinischen Übersetzungen und reichen Scholien des Crusius. 8. der Briefwechsel des Crusius mit Griechen ausserhalb Konstantinopels.
Diesen acht Büchern gehen voraus ein Porträt - nun nicht mehr wie 1566 (GG 64) des fürstlichen Patronus, sondern des weithin berühmten Tübinger Professors selber - des Crusius von 1578 mit griechischer Umschrift im Rahmen und einem Epigramm des David Sigemundus aus Kaschau, die zehnseitige Widmung des Crusius an die Brüder Wilhelm, Ludwig und Georg Landgrafen von Hessen von Tübingen, 25. Februar 1584, in der Crusius auf die Hilfe hinweist, die ihm vor allem der Tübinger Theologe Stephan Gerlach, der von 1573 bis 1578 als Gesandtschaftsprediger in Konstantinopel gewirkt hatte, gewährt habe, aber auch sein ehemaliger Schüler Solomon Schweigker, der im Gefolge Joachim Sintzendorffs in Konstantinopel geweilt habe, sowie weitere ihrem Lehrer dankbare Schüler, dann darauf hinweist, dass man lange nichts aus dem besetzten Griechenland über Religion, Sprache, Städte usw. habe erfahren können, selten einmal etwas zu Melanchthon gelangt sei, dass man angenommen habe, dass auch Athen zerstört, einzig ein paar Fischerhäuser (wohl als antiker Romantopos) geblieben seien, bis man durch Gerlach wieder Verbindungen erhalten habe - eine Mission im Gefolge des Freiherrn David von Ungnad im Auftrag Kaiser Maximilians II., die vor andern Crusius unterstützt hatte, und die zu engen Verbindungen zwischen den protestantischen Theologen Tübingens und dem Patriarchen Jeremias II. Tranos (1572-1595) führte. Man habe nun gesehen, dass die griechische Sprache in Konstantinopel, in Griechenland, auf den Inseln, in einem guten Teil Kleinasiens gesprochen werde, doch nicht in ihrer alten Reinheit. Diese müsse man aus den Büchern der Alten hinzulernen. Doch nicht erst unter den Türken, schon im griechischen Reich sei die Sprache des Volkes verderbt gewesen, wie man aus dem alten handgeschriebenen Choniatas, der einen barbarischen Dialekt habe, ersehe. Dennoch glaube er, dass die Gelehrten die Aufnahme mehrerer Texte in Volkssprache begrüssten, da man so den Abstand von der Vulgärsprache von der alten Reinheit und Eleganz erkennen könne. Wie man die italienische und die verwandten Sprachen mit ihrer Quelle, dem Latein vergleiche, so habe er, der schon lange an dieser Universität (Academia) die Autoren reiner griechischer Sprache lehre, dies nicht aus Betriebsamkeit und Vollständigkeitswahn (polypragmosynÄ“), sondern gleichsam als Abschluss seiner beruflichen Tätigkeit (er ist immerhin bald 60jährig) getan. Er habe eine bisher niemandem im Westen bekannte Sprache, so gut er vermöge, bekannt machen wollen, was vielleicht einst von Nutzen sein würde. Auch in den Annotationen habe er sich hierum bemüht. Man solle auch nicht an der heutigen Schreibweise und der Sorglosigkeit in den Akzenten in diesen Schriften Anstoss nehmen; er habe sie bewusst so belassen, wie er sie in den Autographen vorgefunden habe, um den Unterschied des heutigen Griechenlands vom alten zu zeigen, da die heutigen Griechen nicht die französische oder belgische Aussprache beachteten, sondern keinen Unterschied zwischen i, Ä“, y, oi und Ähnlichem machten. An dieser Verderbnis erkenne man auch das Verdienst jener gelehrten fleissigen Grammatiker (gemeint sind die in den Westen gelangten Griechen und ihre zahlreichen Griechischlehrbücher), die so sorgfältig die richtige Schreibweise und Aussprache gelehrt hätten, nachdem auch er selber, bevor er die heutigen Griechen habe sprechen hören und ihre Schriften gelesen habe, deren Lehren und Regeln für spitzfindiges Geschwätz gehalten habe. Er hoffe, dass die nun zwischen Deutschen und Griechen geknüpften Beziehungen hielten und sich noch erweiterten, besonders auch zwischen den Kirchen. Und von diesem Buch hoffe er, auch wenn er nicht das alte strahlende Griechenland zeige, dass es, aus der Liebe zu Griechenland geboren, einigen Genuss bereite. Er kommt auf die Freundschaft der Landgrafen zu seinem Herrn Ludwig von Württemberg zu sprechen, auf ihre Förderung der Universität Marburg, wo u.a. seine Studienkollegen Johannes und Justus Vulteius lehrten, der Gräzist Otho Gwaltperius, und spricht den Wunsch aus, dass das griechische Reich noch bestünde, es keine Türken gäbe, nicht einmal im Traum, die heutige Jugend zahlreich an die Athener Akademie (aus der einst alle Weisheit und alles Gute sich überallhin, auch zu ihnen ausgebreitet habe) und andere hervorragende Schulen Griechenlands zöge und viel Gutes heimbrächte. Doch jetzt liege es in Knechtschaft, Trauer und Schmutz am Boden. Man dürfe es deswegen nicht weniger lieben, dazu noch bemitleiden. Und wie heute alte Münzen oder Statuen von manchen eifrig gesammelt würden, so sollte auch dieses Buch, wie Trümmer einer einst grossartigen Basilika, Planken eines geborstenen Schiffes Ihrer Hoheit und dadurch auch vielen andern willkommen sein. Und nach der philhellenischen Lehre des verehrten Caspar Hedio für einen zukünftigen Lagerprediger der Türkenexpedition von 1542 werde Gott, wie er bewirkt habe, dass die besten Bücher in die alten Bibliotheken Ungarns, Thrakiens, Griechenlands und Konstantinopels gelangt seien, auch dafür sorgen, dass sie nicht Schaden nähmen, wenn das brutale Militär in ihnen wüte, wie die Bauern bei ihrem Aufstand. Hier sei allerdings nicht Militär nach Konstantinopel gelangt, sondern ein einziger Diener Christi im Gefolge David Ungnads, Gerlach, durch den er habe erhalten können, was er gewünscht habe.
Dieser Widmung folgen als Beigaben eine lateinische Ode des neulateinischen Dichters Paulus Melissus an Crusius von 1583, Epigramme des Melissus und des Stadtarztes von Würzburg Johannes Posthius, ein Brief und Gedichte des Flamen Franciscus Modius aus Würzburg von 1582, zwei Epigramme des Stuttgarter Rektors Leonhard Engelhard, eine längere griechische Elegie des Lüneburger Schulrektors Laurenz Rhodomannus an Crusius von 1579 und dessen Wappen. Nachträglich, nach dem Schlussblatt mit Kolophon und Druckermarke, doch mit nochmals fortlaufender Paginierung, ist dem Werk von Crusius noch eine Appendix mit einem griechischen und lateinischen Briefwechsel von Eparchen, Patriarchen, Melanchthon und des Camerarius beigegeben worden, die er - wie wir aus seinem Widmungsbrief an den Sohn des Camerarius, den Nürnberger Arzt Joachim Camerarius vom 1. Januar 1584 (zu welchem Datum somit das Werk bis auf den Vorspann schon fertig gedruckt vorlag) erfahren - wie zuvor das Werk selber (für das ihm bei der Druckersuche neben andern Freunden besonders der berühmte Philosoph Theodor Zwinger geholfen habe) nach Basel an den berühmten Drucker Sebastian Henricpetri mitzudrucken gesandt habe, der grösste Gewissenhaftigkeit versprochen habe. Der Arzt Camerarius hatte hiernach von Melissus und seinem Kollegen Hieronymus Viscerus erfahren, dass Crusius noch Material für seine Turcograecia suche (dass er solches habe, hatte auch Crusius vom Breslauer Patrizier Jacob Monavius erfahren), und ihm sogleich, trotz seiner Arbeit, Briefe aus seinem grossen Aktenhaufen geschickt, wie zuvor schon Michael Neander aus Ilfeld. Diese Briefe, von denen die meisten ihm unbekannt gewesen seien, habe er als Appendix beigeben wollen; übersetzt habe er sie nicht mehr, aber Anmerkungen am Rand beigefügt.
Mit diesem Werk und der folgenden Germanograecia (GG 66) darf Crusius die Ehre beanspruchen, den modernen Philhellenismus - nach dem römischen - begründet zu haben. Mit ihm hat er als erster nicht nur negativ auf die "Verderbnis" der neuen griechischen Volkssprache hingewiesen, sondern sie auch einem interessierten Leser zur eigenen Kenntnis nahe gebracht. W 200.
Exemplar E K V Nr. 1 (zusammengebunden mit der Germanograecia [GG 66]) aus Besitz Remigius Faeschs, Exemplar Aleph F II 17 Nr.1 aus Besitz eines Jacob Heilbrunner, dann 1619 in Kempten seines Schwiegersohnes Georg Zeaemann.
Bibliothekskatalog IDS
Signatur: Aleph F II 17:1 | EK V 52:1