GG 107
Homeri Vita, ex Plutarcho in Latinum tralata per Io. Rhellicanum, Tigurinum: una cum eiusdem Annotationibus marginalibus, ac Epistola nuncupatoria: in qua libri argumentum continetur, & quibusdam poiētomastigōn cavillis respondetur. Item eiusdem Ioan. Rhellicani Stockhornias. Ad Lectorem. Hoc Plutarchi opusculum non solum... id quod se haud frustra in ipsa adeo libelli fronte admonitum, Candidus Lector agnoscet: ac optimi cuiusque opera & vigilijs iuvari sua studia, grato animo accipiet. Basel: Balthasar Lasius und Thomas Platter März 1537. 8°.
Erster Druck einer vollständigen lateinischen Übersetzung der bis dahin auch griechisch nicht einzeln erschienenen Lebensbeschreibung Homers von Plutarch. Übersetzer ist Johannes Müller aus Rellikon am Greifensee - mit dem Gelehrtennamen Rhellicanus (gest. 1542). 1523 hatte er zu Studien in Wittenberg geweilt und von dort lateinische Übersetzungen von Schriften Luthers nach Basel zum Druck gesandt; danach war er als Lehrer in Stein am Rhein, Zürich, 1528 in Bern tätig gewesen, 1538 dann wieder in Zürich. Gewidmet hat er seine Übersetzung mit Kommentar seinem Berner Freund Hieronymus Fricker, der gerade in Tübingen (der Hochburg des Luthertums in Südwestdeutschland, antizwinglianisch) zum Studium der Jurisprudenz weilte. Fricker, Sohn des Stadtschreibers und Staatsmanns Thüring Fricker, wurde später Unterschreiber (1539), dann Landvogt zu Mendrisio.
Er erinnere sich wohl an sein Versprechen, beginnt Rhellicanus seine Widmung von Bern im Nüechtland, den 26. April 1536, als Fricker noch in Bourges geweilt habe: das Geschenk des Christus des Rosetus nicht nur zu danken, sondern ihm das kleine Werk kommentiert zurückzusenden (das lateinische Gedicht "Christus" des Pietro Rossetto war nach dessen Tod 1534 in Paris bei Simon de Colines erschienen). Doch da er inzwischen durch die ständig aufeinander folgenden Vorlesungen und Vorträge so in Anspruch genommen sei, dass er sein Vorhaben nicht erfüllen könne, da er aber sein Versprechen nicht brechen wolle, habe er überlegt, wie er es halten könne: den Rosetus fahren zu lassen und ihm das Leben Homers, das er der Berner Jugend übersetze (interpretari), dafür zu senden und zu widmen. Es passe besser zu seinen Studien und seinem Alter als ein theologischer Kommentar zu Rosetus, zumal jenes Buch sich kaum verkauft hätte (immerhin ist der Christus selber 1543 noch einmal bei de Colines erschienen). So habe er den Rosetuskommentar beiseite gelegt und sich an die Übersetzung (interpretari) des Lebens Homers nach Plutarch gemacht (dessen Anfang - den historischen Teil - der gelehrte Guarinus - Thomas Guarinus - aus Verona übersetzt habe: transtulit), da dieses nicht nur als Kommentar zu Homer, sondern (vor allem zusammen mit De audiendis poetis) zu sämtlicher Dichtung dienen könne. Auf über zwei Seiten bemüht sich Rhellicanus darauf zu zeigen, wie Plutarch nach den rhetorischen Regeln des genus demonstrativum Biographie und Werk Homers behandelt habe. Da werde ihm ein mürrischer Dichtergeissler vorwerfen, dass er als Christ solche poetischen Spielereien und Mythologien, oft mit Ruchlosem und Obszönem vermischt, nicht nur der ihm anvertrauten Jugend auslege, sondern sogar noch veröffentliche, dass das Gift sich noch weiter verbreite. Ob er nicht gelesen habe, dass sogar der heidnische Philosoph Plato im Staat Hesiod und Homer aus seinem Staat ausgeschlossen habe, gleichgültig ob jenes allegorisch zu verstehen sei oder nicht, da Jünglinge das nicht zu unterscheiden vermöchten. Oder gar Augustin? Freilich finde sich viel Schamloses in den dichterischen Erfindungen. Aber dann müsste man die Jugend auch von der Heiligen Schrift fernhalten, mit den Geschichten von Cham, den Sodomiten, den Gabaoniten, dem Hohenlied Salomons. Aber auch dieses sei nicht wörtlich, sondern allegorisch auszulegen, auf Christus und die Kirche als seine Braut zu beziehen. Und das solle ein gottesfürchtiger Professor mit der Dichtung nicht zu tun vermögen, den Jungen in der Vorlesung zeigen, was schändlich, was ehrenhaft, was heidnisch, was christlich sei? Das täten sogar die Dichter selber mit ihrer Bestrafung des Tantalus, Ixions. Warum erlaube man Zenon, Plutarch, Varro und andern Mythologen nicht, was das Hohelied tue? Ein Jüngling, der sich mit den reinen Dichtern Homer, Pindar, Vergil seinem Alter entsprechend beschäftigt habe und die Mythologien kenne, trete weit besser gerüstet an die allegorische Deutung der Propheten heran, als wenn er nach Art einiger Besserwisser und Abergläubischer sich nie mit Dichtung befasst habe. Und auch die Komiker und Satiriker hätten bei den Griechen bzw. den Römern - als Vertreter der Propheten bei den Heiden - Moral gelehrt. Und dann hätten auch Plato - im Ion - und Augustinus die Dichtung an andern Stellen der Jugend durchaus nicht verboten, sondern zu wählen empfohlen, worauf auch Marsilius Ficinus hinweise; woraufhin Rhellicanus sich mit Augustinus' allegorisch-christlicher Deutung Varros befasst und darauf hinweist, dass Plutarch in der vorliegenden Schrift ebenfalls den Weg zu solchem zeige. Mit seiner ihm gewidmeten Übersetzung wolle er nicht Ruhm ernten, sondern zufrieden sein, wenn er den Griechischanfängern helfe und andern eine Gelegenheit biete, Plutarch besser als er zu übersetzen. Wenn ein Leser Fehler finde, möge er sie ihm mitteilen und verbessern und nicht vergessen, dass auch er, der Leser, ein Mensch sei und irren könne. Auch er sei bei vielem in der Übersetzung mit sich nicht zufrieden: weil Plutarch zuweilen verstümmelte Verse Homers zitiere, manchmal aber die von Plutarch zitierte Stelle in seinem Archetyp nicht auffindbar gewesen sei, woraus er sonst den wahren Sinn besser hätte herausfinden können. Dann auch, weil er versucht habe, Zeile gegen Zeile zu übersetzen, und dabei manchmal die griechischen Redefiguren nicht habe wiedergeben können. Er möge das papierene kleine Geschenk als Freundesgabe ansehen und mit seinem Ansehen schützen. Megander (Caspar Megander/Grossman aus Zürich, 1495-1545, nach Studien in Basel 1515ff. Kaplan am Grossmünster und Helfer Zwinglis, 1528-1538 Pfarrer am Münster in Bern, wo er eine theologische Lehranstalt eingerichtet hat, dann Archidiakon am Grossmünster Zürich), nach dem Tod Bertold Hallers am 25. Februar Vorsteher der Berner Kirche, und Sulzer (Simon Sulzer, Meiringen 1508 - Basel 1585, nach Studien in Strassburg und Basel 1532 Professor der Logik in Basel, 1538-1548 Pfarrer in Bern, ab 1549 wieder in Basel Pfarrer, Antistes, Professor der hebräischen Sprache, der Theologie) liessen ihn grüssen. Von ihm möge er seinen Lehrer Volmar (Melchior Volmar, Rottweil 1497 - Isny 1561, nach Schulzeit in Bern und Studien 1514-16 in Tübingen 1520 Schulmeister in Bern, 1521 auf Empfehlung des Berner Rates mit königlichem Stipendium Studium des Griechischen an der Sorbonne in Paris; führte darauf eine Pension als Privatlehrer in Orléans, dann Professor des Griechischen an der Universität Bourges, wo Théodore de Bèze und Calvin sowie Conrad Gesner und zahlreiche weitere Schweizer wie unser Fricker seine Schüler waren; aus konfessionellen Gründen 1535 Flucht nach Deutschland, 1535-1555 als Zwinglianer Professor der Rechte, dann des Griechischen im lutherischen Tübingen) grüssen und seinen, des Rhellicanus, Verwandten und Schüler Johannes Hospinian, falls dieser mit seinen Schülern aus Augsburg nach Tübingen komme (Johannes Wirth aus Stein am Rhein, 1515-1575, Studien in Tübingen ab 1. April 1536, Baccalaureus Februar 1537, Magister artium 1539, dann 1539 in Basel, 1542 Professor für Griechisch und Rhetorik, 1546 für Organon, Pfarrer; aus den Worten des Rhellicanus muss man der Biographie Hospinians beifügen, dass er offenbar vor seiner Immatrikulation in Tübingen in Augsburg als Schulmeister gewirkt hat).
Rhellicanus hat seinem pädagogischen Plutarchkommentar, in dessen Widmung er ähnliche Gedanken äussert wie Simon Grynaeus u.a. 1533 in der Vorrede zu seiner griechischen Ausgabe der Vitae Plutarchs (GG 103), seine Schilderung einer Bergtour (peregrinatio) auf das Stockhorn (2190 m. ü. M.) von Erlenbach aus in 130 lateinischen Hexametern beigegeben (hier deren Erstdruck), die er einem weiteren Freund, dem pflanzenkundigen Berner Pfarrer Peter Kunz (um 1480-1544, Pfarrer am ünster seit 1535) am 12. Auugust 1536 gewidmet hat, der selber, wie auch Simmon Sulzer und Christian Danmater, an der Wanderung teilgenommen hat. Zunächst entschuldigt sich Rhellicanus für die Verspätung der Beschreibung mit der aussergewöhnlichen Hitze dieses Sommers, die alle Pflanzen vorzeitig habe verdorren lassen, und bei Mensch und Tier habe Trockenheit der Leber zu Durst, Durst zu unmässigem Trinken, dieses zu Krankheiten, u.a. Dysenterie geführt. Sonst schon zu Ermüdung durch Kopfschmerzen neigend, habe er sich in der Hitze solcher Arbeit enthalten müssen. Um nicht durch Nichtstun ganz träge zu werden, habe er ihre Wanderung - die er nach der Beschreibung des Gipfels Stockhornias nenne - gedichtet. Er widme sie ihm als seinem Patron in allem.
Aus Besitz Basilius Amerbachs: B c VI 77 Nr. 4
Bibliothekskatalog IDS
Signatur: Bc VI 77:4