GG 170
Poetarum omnium seculorum longe principis Homeri Omnia quae quidem extant Opera, Graece, adiecta versione Latina ad verbum, ex diversis doctissimorum virorum translationibus concinnata, & difficiliorum thematum explicatione marginibus hinc inde ubi opus videbatur adspersa, ut graece linguae tyronibus, vel citra vivam praeceptoris vocem, cognoscere iam atque conferre doctissima Poëtae huius scripta liceat.... Basel: Nicolaus Brylinger und Bartholomaeus Calybaeus 1551. Fol.
Im selben Jahr, da bei Johannes Herwagen eine neue Auflage seines für die Gelehrtenwelt bestimmten Homer mit Scholien von 1541 (GG 169) erscheint, lassen zwei jüngere Basler Drucker, der etwa um 1515 geborene Nicolaus Brylinger und sein Schwiegersohn Bartholomaeus Calybaeus - Stähelin - gemeinsam eine völlig andere Folioausgabe der Werke des Vaters der griechischen Dichtung, für völlig andere Zwecke erscheinen: für Griechischanfänger, nach gegen zwanzig griechischen (ab 1488 in Italien, Löwen, Strassburg und Basel) und zwei lateinischen (Antwerpen 1528 und Paris 1537) Gesamtdrucken die erste zweisprachige Ausgabe. Brylinger hat von 1537 bis zu seinem Tod im Jahre 1565 in Basel gedruckt, der Ratsherr und Almosenverwalter Stähelin nur wenige Werke von 1551 bis 1564, teilweise wie hier gemeinsam mit seinem Schwiegervater.
"Der Drucker" - sei das nun einer der beiden Drucker im Namen beider oder, eher, einer der in dieser Vorrede erwähnten, aber nicht namentlich genannten Gelehrten, der den Druck betreut hat - weist, wie schon im Titel, in der Vorrede an die Bonarum Literarum studiosi auf den von andern Homerdrucken abweichenden Zweck der Ausgabe ausdrücklich und ausführlich hin: Es seien zwar, nach einhelliger Ansicht der Gelehrten, die Freien Künste, die Wissenschaften und die besten Autoren (liberales artes, humaniores literas & optimos quosque authores) durch das Studium der Sprachen, im besondern der griechischen, vor dem Untergang bewahrt und völlig wiederhergestellt worden, doch aus irgendeiner Leichtfertigkeit oder Trägheit entzögen sich ihm, als unnütz und überflüssig, nun die meisten studiosi, möglicherweise weil, was er befürchte, aus ihrer, der Drucker, Untätigkeit, wenn es so weitergehe, die Wissenschaft und Literatur, in Kürze einen gewaltigen Schaden nehme. Viele klagten über eine hier liegende Schwierigkeit und dass sie einen eigenen und ihnen ergebenen Mann suchten. Aber das sei eher eine leere Behauptung als die Wahrheit, besonders wenn man den Nutzen gegen die Mühe abwäge. Und wenn eine Wahrheit darin steckte, müsse man eher den alten Spruch bedenken, dass alles Schöne schwer sei, dass man in keiner Kunst, in keinem Fach ohne Kenntnis dieser Sprache Erfolg haben könne, was heute Beispiele allgemeinen Unglücks und später Reue überall belegten. Deshalb habe er auf Rat rechtschaffener Männer beschlossen, den grossen Dichter Homer zu drucken, doch aus einem völlig andern Grund als die Übrigen: die lateinische Übersetzung habe er, nach den besten Übersetzern, genau dem Griechischen entsprechend gegenüber gesetzt, damit Jünglinge, die bisher, aus Angst vor den Schwierigkeiten, damit zufrieden gewesen seien, sich in gewöhnlichen Büchlein irgendwie geübt zu haben, ein Buch hätten, das sie lesen, verstehen, Tag und Nacht in Händen haben könnten, dass aber auch Erwachsene (die sich schämten, dieses Kleinzeug, wie sie meinten, bei Lehrern zu hören) auf eigene Faust die homerische Philosophie kosten und eine vollkommene Kenntnis dieser Sprache sich ohne Mühe allmählich erwerben könnten. Nicht dass sie die lebendige Stimme eines Vortragenden gering achten und sich allein an diese stummen Buchstaben halten sollten, durch deren Mehrdeutigkeit sich Vertrauen oft täuschen lasse, sondern ein jeder solle sich, wie Cicero empfehle, einen Mann, aber einen hervorragenden, aussuchen, dessen Bildung und Stand er durch ein gleiches Studium zu erreichen sich vornehme. Von klein auf sei die Jugend sichtlich so veranlagt (constituta), dass ihr nichts helfen oder raten könne, was sie in der Nachahmung des besten Rede- und Schreibstils zu tun oder zu lassen habe (obwohl sie zahllose in herrlichen Denkmälern bezeugte Beispiele der Vorfahren vor Augen habe), wenn ihr Bildungsstand und ihre Lebensform nicht durch unablässige Aufmunterungen unterwiesen werde (instituatur). Dank dieser Erkenntnis zweifle er nicht, dass (neben anderem Nutzen) einzelne studiosi den grössten Vorteil aus diesem Homer zögen und ihm dankten, ihm, dem es einzig darum gehe, das Sprachstudium bei allen auf hohem Stand zu erhalten. Das sei wohl durch seine bisherigen Bemühungen um den Buchdruck genügend deutlich.
Die Wort-für-Wort-Übersetzung steht der des Andrea Divo aus Capodistria nahe, die 1537 in Venedig erschienen war (Basler Exemplar aus Besitz des Martin Borrhaus, des Solinger Nachdrucks von 1540 aus dem des späteren Druckers Sixtus Petri, 1545), während die ältere Lorenzo Vallas in klassischem Latein verfasst ist. Dazu hat Brylingers Herausgeber in methodisch überaus einleuchtender ungewöhnlicher Form anstelle herkömmlicher Marginalien dem Text, vor allem der beiden grossen Epen, marginal die "Erklärung schwierigerer Sätze", auf die schon im Titel mit Recht hingewiesen wird, beigegeben: zu Beginn der Werke überaus ausführlich, sogar mit Verständnishilfen für das Lateinische, im Fortschreiten der Werke angemessen den Fortschritten der lesenden Schüler in den Griechischkenntnissen und speziell denen der Sprache Homers abnehmend, bis sie fast ganz verschwinden, den Lesern so die Freude eigener Kenntnisse schenkend: Übersetzungen einzelner Wörter, grammatikalische und syntaktische Hilfen und Erklärungen. Dem Personenindex der Ilias (die Odyssee mit den übrigen Gedichten und der ebenfalls zweisprachig beigegebenen Homervita Plutarchs hat, wie ein eigenes Titelblatt und eigene Paginierung, auch ein eigenes Register erhalten; beide geben zu jeder Stelle auch kurz den Zusammenhang sowie zur Seite auch die Zeile an) folgt noch ein 40zeiliges Epigramma des Basler Polyhistors und späteren Theologen und Arztes Heinrich Pantaleon (1522-1595), 1544 als magister artium Professor der lateinischen Sprache am Pädagogium, 1548 der Rhetorik, später Physik auf den Homer, der in griechischer Rede lateinisch spreche. Pantaleon, der seine eigenen Werke in den 1550er und 1560er Jahren sämtlich bei Brylinger drucken liess und bei diesem 1556 auch eine ähnlich unkonventionelle lateinisch-deutsche Bibel herausgab, dürfte auch der Verfasser der Verständnis- und Übersetzungshilfen sein, wenn er in diesem Geleitgedicht von sich sagt, dass "wir" euch, den Jungen, hier diesen mit griechischem Mund lateinisch sprechenden anbieten, damit jeder von ihnen ihn Wort für Wort wiedergeben könne: Offerimus vobis. Dass Brylinger, dessen Vorrede dann ebenfalls Pantaleon in seinem Namen verfasst haben dürfte, von mehreren Gelehrten spricht, die ihm die Ausgabe nahegelegt hätten, kann trotzdem wörtlich, kann aber ebenso auch topisch verstanden werden.
Neuerwerbung von 1948; einziger Besitzereintrag: von einem Alfonsus Canobius (? radiert) Importunus, Sohn eines Thomas, Enkel eines Johannes, Urenkel eines Niger: B a I 22
Die Vermutung, Pantaleon sei der Herausgeber dieses Homerdrucks von 1551 und der Autor der wörtlichen Übersetzung, wird ziemlich deutlich durch eine Titelauflage mit verbliebenen Exemplaren der Ausgabe bestätigt, die mit neu gedrucktem und von 1553 datiertem Titelblatt, einer Widmung Pantaleons an Herzog Eberhard von Württemberg, Graf von Mömpelgard, vom 21. März 1553 und zusammen mit Titel und Widmung gezwungenermassen neu gesetztem und gedrucktem Schlussblatt des Index (A 6) und Geleitgedicht (nun nach A 6) bei den selben Druckern zwei Jahre später erschienen ist. Die Errataliste ist auf weniger als die Hälfte zusammengeschrumpft, doch verbessert ist natürlich (da ja gar nicht neu gedruckt worden ist) keiner der nicht mehr aufgeführten Druckfehler. In dieser Widmung, die wohl auch das Werk besser zum Verkauf empfehlen sollte, hebt der Basler Lizentiat der Theologie und Polyhistor hervor, dass, wie Salomon zum Bau des äusseren Tempels nicht nur Gold, Silber und Edelsteine, sondern auch Eisen, Holz, Kalk, Sand und Wasser gebraucht habe, es zur Ausbildung des wahren Tempels Gottes, des Menschen, neben den heiligen Schriften und deren Auslegungen auch die Naturerkenntnis, die Astronomie, das Studium der Freien Künste, durch die man die Gedanken ausdrücken, andern mitteilen könne, brauche; ausserdem die Lektüre der Redner, Historiker, Dichter. Nicht um dies bis ins Alter zu betreiben, sondern um sich besser mit Höherem befassen zu können. Das habe schon Basilius in seiner bekannten Schrift gesagt und vergeblich hätten bis anhin gewisse Leute gemeint, diese Studien seien für die christliche Jugend schädlich oder überflüssig. So zitiere Paulus vor dem Areopag in Athen Arat, Menander und Epimenides. Und die Schriften der alten Kirchenväter seien voll von solchen Zitaten. Homer sage besser als mancher Philosoph, was gut sei. Wenn aber all diese Fächer einen nicht zum Studium verlockten, solle sich dieser wenigstens um die griechische Sprache bemühen, die er bestens aus diesem Dichter lernen könne (Melior Volmar ist hierin anderer Meinung gewesen, aus eigener schlechter Erfahrung). Dann würden Barbarei und Finsternis schwinden. Es gebe keinen kostbareren Schatz. Doch trotz seiner Berühmtheit im Altertum widme sich ihm heute kaum einer. Wer ihn der Schwierigkeit zeihe, erweise sich nur selber als faul. Andere schämten sich nach einer schweren Jugend, sich mit so Leichtgewichtigem zu beschäftigen, und zögen es vor, sich mit der Philosophie des Aristoteles, den Experimenten Galens, den Gesetzen Justinians, sogar den Prophezeiungen Gottes ohne Vorbereitung zu beschäftigen (d.h. Philosophie, Medizin, Jurisprudenz, gar Theologie ohne Griechischkenntnisse studieren zu wollen). Darum habe der Drucker Nicolaus Brylinger beschlossen, den Homer auf eine ganz neue Weise herauszubringen (was allerdings eben schon 1551 mit Brylingers eigenem ähnlichem Hinweis geschehen war). Während die andern ihn nur griechisch vorlegten oder, wenn lateinisch, dann mehr dem Sinn nach (und dazu metrisch - hier spielt er offensichtlich auf die dichterische Übersetzung des Eobanus Hessus an, die 1540 bei Robert Winter erschienen war [GG 168]) als dem Wortlaut, habe er entschieden, beide Sprachen einander gegenüber und Wort für Wort übersetzt darzubieten, damit Junge ohne Lehrer oder Erwachsene, die sich bisher hätten abschrecken lassen, dies als Führer verwenden könnten (B c I 71: Ex libris Bibliothecae Academiae Basiliensis).