GG 314
En Lector, librum damus vere aureum, planeque scholasticum, quo continentur haec:
Ta Chrysa Kaloumena Pythagorou Epē. Phōkylidou poiēma nouthetikon. Theognidos megareōs Sikeliōtou poiētou gnōmai elegiakai. Kolouthou lykopolitou Thēbaiou, helenēs harpagē. Tryphiodōrou poiētou Aigyptiou, Iliou halōsis.
Id est, Pythagorae carmina aurea. Phocylidae poema admonitorium. Theognidis Megarensis poetae Siculi gnomologia. Coluthi Lycopolitae Thebaei Helenae raptus. Tryphiodori poetae Aegyptij de Troiae excidio. Omnia graecolatina, conversa simul & exposita a Michaele Neandro Soraviense... Basel: Johannes Oporin August 1559. 4°.
Gleichzeitig mit den christlichen Sentenzen des Neilos vom Sinai (GG 315) erscheint bei Oporin, ebenfalls von Michael Neander übersetzt und kommentiert, eine fünfteilige Sammlung "heidnischer" Gedichte und Gedichtsammlungen: die dem samischen Philosophen des sechsten Jahrhunderts vor Christus Pythagoras unterschobenen späten sog. Goldenen Worte (er hat keine Schriften verfasst), das Lehrgedicht seines Zeitgenossen Phokylides von Milet, bzw. das gnomische Lehrgedicht von 230 Hexametern, das im ersten Jahrhundert nach Christus ihm zugeschrieben wurde (während von seinem eigenen Lehrgedicht nur wenige Fragmente erhalten sind), die heute ebenfalls mehrheitlich als spätere Zutaten geltenden etwa 700 Distichen, die unter dem Namen des aristokratischen Dichters Theognis aus Megara (der Rivalin Athens, nicht Sizilien), ebenfalls eines Zeitgenossen des Pythagoras, überliefert wurden, das Kurzepos (knapp 400 Verse) über den Raub der Helena des Kolluthos aus Lykopolis in Ägypten aus dem fünften Jahrhundert nach Christus und das etwas umfangreichere Kurzepos (fast 700 Verse) des ägyptisch-griechischen Dichters Tryphiodor, ebenfalls aus der Schule des Nonnos von Panopolis, ebenfalls aus dem fünften Jahrhundert nach Christus, über den Fall von Troia - Werke, die heute und schon lange nicht mehr in der Schule gelesen werden, die hierfür grossenteils viel zu schwierig wären, die aber, wie sich aus den Äusserungen Neanders, des Rektors und Lehrers des 1546 gegründeten kleinen Gymnasiums im ehemaligen Kloster Ilfeld bei Nordhausen, und aus der Art seiner Kommentare schliessen lässt, zumindest von ihm - und dann gewiss auch von andern - mit seinen Schülern gelesen worden sind; Werke, die den Sammeldruck damit aber noch längst nicht zu einem blossen Schullesebuch machen. Jeder der vier Teile (im ersten sind "Pythagoras" und "Phokylides" vereint) hat hingegen auch wieder sein eigenes Titelblatt, seine eigene Paginierung, kaum viel anders als der für sich erschienene Neilos, so dass Schüler und Studenten sich wohl durchaus auch nur das eine oder andere Heft der Sammlung haben anschaffen können. Dementsprechend hat Neander auch jedes Heft andern Patronen aus seinem pädagogischen Umfeld gewidmet: so das erste und damit gewichtigste Heft mit den Goldenen Worten, dem Gedicht des "Phokylides" und, inhaltsverwandt, der Darstellung des sog. Herakles am Scheideweg nach dem Sophisten Prodikos aus Xenophon, mit der Tugend und der Wollust, hat Neander an seinem Namenstag (29. September) des Jahres 1559 den Bürgermeistern und Räten von Tennstedt in Thüringen: Von altersher hätten heidnische wie christliche Autoren moralische Lehren in kurzen Sätzen ausgedrückt, wie bei Juden in den Büchern der Sprüche oder des Predigers Salomos. In der Folge behandelt Neander weitere jüdische Autoren und Werke wie Paul Fagius, Reuchlin (fast Zeitgenossen), dann griechisch-christliche, etwa von Maximos Confessor (Anfang 7. Jh.), die von ihm fast gleichzeitig herausgegebenen Ermahnungen des Bischofs und Märtyrers Neilos, die Gedichte Gregors von Nazianz, Agapetos, bei den Heiden Isokrates, Theophrast, Aristoteles, das aus einzelnen Komiker- und Tragikerversen zusammengesetzte Senarebuch, die Dichter. So bietet er in seiner Widmung eine Geschichte der paränetischen Prosa und Dichtung, der Gnomen und Gnomologien mit zahlreichen Beispielen und geht schliesslich selber dazu über, über zwanzig aus grösseren Werken einzeln erhaltene Verse aus den verschiedensten Quellen zusammenzustellen, mit Übersetzung und, am Rand und unter dem Text Kommentar, Quellenangaben und abweichenden Lesarten, im Ganzen eine Darstellung, die gestalterisch einen grossen Schritt auf die kritischen und kommentierten Ausgaben zu macht, wie wir sie allgemein erst seit dem 19. Jahrhundert gewohnt sind. Schliesslich kommt Neander noch kurz auf die lateinischen Gnomologien zu sprechen, weist auf das Büchlein, das sich bis in seine Zeit unter dem Namen Catos in den Schulen verkaufe, als eleganteste und für Kinder geeignetste Lektüre hin, was schon Valla bezeugt habe, die Mimen des Publius, die von den besten Autoren erwähnt und gerühmt würden, wie man bei Gellius, Seneca und Macrobius sehen könne (Publilius Syrus, der im 1. Jh. v. Chr. aus Antiochia als Sklave nach Rom gekommen war und dort als Freigelassener den alten Mimus künstlerisch ausgestaltet hat; Sinnsprüche daraus wurden später zu einem Schulbuch zusammengestellt), und zwei Gnomologien, die er selber zusammengestellt und herausgegeben habe: eine aus der lateinischen Dichtung und eine aus Gnomen der lateinischen Philosophen, Historiker und Redner (überraschenderweise nicht genannt seine näherliegende Gnōmologia Hellēnikolatinē, die 1557 bei Oporin erschienen war [GG 313]). Zuletzt gibt Neander noch die zu solchen Ausgaben gehörende Einführung, hier in die ersten beiden Autoren seiner Sammlung und deren quellenkritische Kurzbiographien: den Samier Pythagoras, die ihm zugeschriebenen Goldenen Worte, und den Milesier Phokylides, weist darauf hin, dass er sie auf Empfehlung rechter Leute für die Schüler auch ins Lateinische übersetzt und die dunkleren Stellen kurz erklärt habe. Diese kurze expositio hat allerdings schon etwas mehr als den doppelten Umfang des zweisprachigen (!) Textes, der selber schon marginal die nötigsten Verständnishilfen und Hinweise auf Quellen und Parallelen bietet.
Das zweite Heft der Sammlung, Theognis, mit eigener Paginierung und Impressum, hat Neander am 5. März 1559 den Bürgermeistern und Rat der Stadt Bremen gewidmet mit einem zusätzlichen daktylischen griechischen Gedicht in chorlyrischen Hexameter-Dimetern von nochmals fast acht Seiten an die Bürgermeister Daniel von Beuern, Johann Hoffmann, Luder von Belmar und Tetmar Kenckel, die auch gegen Ende der Widmung zusammen mit ihrem Syndikus Johann Rhaedar angesprochen werden. Hier kommt er nach einer Einführung in die griechische Dichtung, vor allem Homer, auf seinen Autor von hypothēkai, d.h. moralischen Sentenzen, zu sprechen, dass er sich für die Jugendlichen um Sacherklärung bemüht habe (verba cum rebus ipsis zu erklären) und zu seiner Erklärung (expositio) die besten griechischen und lateinischen Autoren beigezogen habe, indem er immer erst kurz seine eigene Erklärung gegeben und dann auf die Stellen hingewiesen habe, wo man ausführlichere Erklärungen finde, um so diejenigen zur Lektüre der alten Autoren zu animieren (exuscitare). Und wenn jemand genügend Bücher besitze und sich selber üben und Theognis andern vortragen wolle (hier ist an Erwachsene, wohl auch Lehrer gedacht), so habe er die Angaben, wo er das Material zur Erklärung finde. In Übersetzung und Erklärung habe er hin und wieder konjizieren müssen; da halte er den für den besseren Wahrsager, der besser rate. Er betont, dass man an Theognis Sprache und Sitten ausbilden könne, dass Gelehrsamkeit ohne gute Erziehung wertlos sei, kommt auf die heilige Schrift zu sprechen, dass die Lehren des Theognis denen der Sprüche Salomonis nicht fern stünden und nach fürstlichem Gesetz auch heidnische Schriften in der Schule gelehrt würden, die auch die griechischen Theologen, die weniger irrten (als die lateinischen), keineswegs verurteilt hätten. Und laut Plinius finde man schliesslich auch im schlechtesten Buch noch Gutes; das gelte sogar für das Gebrüll und Geschrei der Mönche, ihre "Vade mecum", "Rapiamus totum" und 600 andern Bücher, und wenn es schon nur durch einen Vergleich mit dem hellen Licht der jetzigen Zeit sei. Darum habe er Theognis übersetzen und für die Jugend erklären wollen. Ihnen widme er die Ausgabe auf Empfehlung von Freunden, denen ihr Einsatz für ihre Bremer Schule, Kirche und Republik bekannt sei. Dem zweisprachigen Text voran geht dann noch eine über sechsseitige Einführung in Theognis peri Theognidos aus der Feder Neanders mit seiner Übersetzung und fünf Seiten alte griechische Testimonia, ebenfalls auf den Nebenseiten lateinisch übersetzt, die griechischen Texte in winziger Kommentarkursive. Dem Text mit seinen laufenden Marginalien folgt auch hier eine zusammenhängende expositio.
Das dritte Heft, den spätantiken Raub der Helena des Kolluthos hat Neander ebenfalls am 5. März Bürgermeister und Rat der reichsfreien Stadt Nordhausen, in deren Gebiet sein Ilfeld liegt, gewidmet. Auf der Titelseite wird noch durch Inhaltshinweise auf besonders spannende und anmutige Abschnitte des Epyllions die Lektüre schmackhaft gemacht: die Hochzeit des Peleus, des Vaters Achills, mit der Meergöttin Thetis, der die Götter selber mit den Musen und Apollo beigewohnt hätten, die Geschichte vom Apfel der Eris und dem Urteil des Paris, schliesslich sein Aufbruch nach Griechenland und der Raub. Die Perser hätten die Griechen ausgelacht, beginnt Neander die Widmung an die Honoratioren, dass sie, und dass sie so lange zur Bestrafung eines Frauenraubs Krieg geführt hätten. Doch die Strafe komme von Gott, und darum müsse die Jugend immer Beispiele solcher Bestrafungen vor Augen habe, heilige wie von Sodom und Gomorrha und Theben, Athen, worauf er auf seiner Meinung nach unsittliche Bräuche der Athener - wie das Hetärenwesen - zu sprechen kommt und deren literarische Quellen angibt: Philemon, Nikander, Athenaeus. Als Strafe Gottes seien Athen und ganz Griechenland und die griechische Kultur von den Römern unterworfen worden. Neander lässt weitere solche Strafen folgen: den Raub der Medea und seine Folgen, die Bestrafung des Tyrannen Peisistratos in seinem Sohn Hipparch, Dionys von Syrakus, Kambyses, die Verjagung der römischen Könige nach der Entehrung Lucretias, die Vielweiberei der persischen Könige und verwandtes Verhalten bei griechischen und römischen Staatsmännern, um schliesslich auf das berühmteste Beispiel göttlicher Strafe zu sprechen zu kommen, die Zerstörung Troias nach dem Raub der Helena, und hier nach der Behandlung der übrigen Quellen auf das Gedicht des Coluthus, das er verbessert, übersetzt und erklärt habe, an dem die Knaben die griechische Sprache und viel anderes Nützliches lernen könnten. Seit zehn Jahren dürfe er schon an ihrer Stadtschule wirken, dafür danke er ihnen, besonders Erasmus Faber, der Zierde der Stadt. An diesen Rektor der Schule von Nordhausen Andreas Faber aus Chemnitz lässt Neander dem Druck des Textes mit Übersetzung, Marginalien und nachfolgender Expositio noch eine zehnseitige wissenschaftliche griechische Widmungsvorrede (in winziger Kursive papiersparend gedruckt) vorangehen, in der er auch, dies immerhin mit den einzigen nicht griechischen Marginalien, auf zeitgenössische Kollegen hingewiesen hat: die Brüder Georg, Andreas, Jacob und Blasius Fabricius und Martin Crusius, Rektor der Schule von Memmingen in Schwaben. Der Text folgt der Ausgabe des Aldus Manutius (im Anhang an Quintus Calaber, um 1504), in Kommentar und Lesarten sind die Annotationes des Brodaeus zu Coluthus (und andern Epen) eingearbeitet, die 1552 bei Johannes Herwagen erschienen waren (GG 190).
Das vierte Heft, die Eroberung Troias von Tryphiodor, hat Neander am selben Tag wie Theognis und Kolluthos Bürgermeistern und Rat der Stadt Görlitz in Schlesien gewidmet. In dieser Widmung zählt er zunächst die zahlreichen Werke über den trojanischen Krieg und ihre Autoren auf: Dares und Diktys wie Homer und unzählige nicht erhaltene Werke, die Fortsetzung der Ilias Homers durch Quintus Calaber, und kommt auf den moralischen Gehalt des Stoffes zu sprechen, wozu er seine einzelnen Gestalten behandelt, Trojaner wie Griechen, anschliessend auf die Nachfolge Roms durch Aeneas, die inneren Kriege Roms aus dem Streben jedes Einzelnen nach Herrschaft wie nach einem Fluch des Oedipus, bis zu Caesar und Antonius. Da der Stoff des trojanischen Krieges so umfangreich und ergiebig sei, habe sich der ägyptische Dichter Tryphiodor daraus den Untergang der Stadt zur Darstellung ausgewählt. Dieses Gedicht habe er auf lateinisch übersetzt und die Übersetzung zum Vergleich für die Jugendlichen mit dem griechischen Text zusammen drucken lassen. Diesen habe er, da seine Vorlage (der Druck des verdienten Aldus Manutius zusammen mit Calaber) an vielen Stellen durch die Zeit, die Unkenntnis und Sorglosigkeit der Kopisten verderbt gewesen sei, wiederherzustellen versucht. Zudem habe er, da Tryphiodors Anspielungen auf andere Geschichten eine Erklärung verlangt hätten, eine solche nach den besten Autoren beigefügt, und darin alles zum Verständnis nicht Nötige weggelassen, das behindert hätte und bewirkt habe, dass der Autor bisher nur wenigen bekannt und verständlich und auch bei seinen Besitzern in den Bibliotheken vergraben gewesen sei. Die Widmung hätten sie verdient für ihren ganz besonderen Einsatz für ihre Schule, auf den ihn Freunde hingewiesen hätten, grösser als in allen andern Städten Schlesiens. Dieser Widmung, in der für jeden Hinweis und jedes Zitat die Quelle nach der damaligen Weise genau - d.h. nach Werk und Buch - am Rand angegeben ist, folgt eine zwölfseitige griechische Ode in sapphischen Strophen für den Magister Othomannus und die rectores (wohl die Scholarchen gemeint) und Lehrer (scholastici) der Görlitzer Schule und eine zweisprachige Inhaltsangabe des Epyllions. Diesem sind neben dem griechischen Text Erklärungen vor allem sprachlicher Art und lateinische Übersetzungshilfen, einmal sogar typographisch kenntlich eine deutsche, beigegeben, neben der lateinischen Übersetzung u.a. textkritische Bemerkungen und weitergehende sachliche Erklärungen, auch Hinweise auf inhaltliche Parallelen bei andern Autoren.
Exemplar B c III 184 Nr. 1: 1582 von Sigismund Kien erworben (Kien/Kun/Kühn, 1548-1626, in Basel immatrikuliert 1565/66, Bacc. artium 1568, 1573-1626 Pfarrer zuerst in Münchenstein, dann in Basel); 1655 von Remigius Faesch für 8 Asse gekauft (zusammengebunden mit dem Nilus Neanders/Oporins vom selben Monat [GG 315]).
Bibliothekskatalog IDS
Signatur: Bc III 184