Kunstvoll durch die Krise

Als der Bundesrat Mitte März 2020 bis auf Weiteres Homeoffice verordnete für alle, die von zuhause aus arbeiten konnten, lancierte die UB in ihrem internen Blog die Serie «Am Kaffeeautomaten».

Dabei ging es darum, den UB-Kolleg*innen von Erfahrungen, die in diesen speziellen Wochen gemacht wurden, zu berichten. Wie organisiert man sich zuhause, wenn plötzlich die ganze Familie gleichzeitig vor Ort ist? Was ist trotz Lockdown noch machbar? Was für Rezepte gibt es gegen den Corona-Blues? Entstanden sind rund 40 schöne Beiträge von UB-Mitarbeiter*innen, manche motivierend und tröstend, manche nachdenklich, manche sehr unterhaltsam. Aber lesen Sie selbst. Die folgenden zwei Texte stehen exemplarisch für den Versuch des UB-Teams, das Pausengespräch wenigstens am virtuellen Kaffeeautomaten aufrechtzuerhalten.

Episode 1:
Ist das Kunst oder kann das weg?

Nun haben wir also Woche sieben des Lockdowns hinter uns gebracht. Die Bilanz bisher:

  • Cellounterricht in der Küche über Facetime am Handy (angelehnt an einen Wasserkrug, der auf dem ehemaligen Hochstuhl steht) und simultaner Klavierunterricht im Wohnzimmer über Zoom auf dem Laptop (prekär auf dem Piano drapiert) funktionieren. Elternteil faltet derweil Wäsche, da somit alle Geräte im Haus besetzt sind (Note to self: You can never have too many devices).
  • Max ist zwei Jahre älter als Konstatin, Sibylle ist so alt wie Max und Nina zusammen, Konstantin ist sieben Jahre jünger als Chiara, Melissa ist acht, wie viele Murmeln hat Sven? (Elternteil geht «kurvendiskussion» googeln und verflucht die Lateinmatura).
  • Schulfernsehen gibt es immer noch.
  • Seilspring-Challenge: Kind 1 (11): 150. Kind 2 (8): 135. Elternteil (41): 25. Die Nachbarn unten bedanken sich.
  • Top 1 der Arbeitsaufträge: «Und wenn Du traurig bist, mach ganz laut Happy-Musik an und tanze dazu wild herum. Mach ein Video davon und schick es uns». Alle Nachbarn bedanken sich.

Fazit also: Man versucht, sich so gut es geht, im Chaos einzurichten und beglückwünscht sich am Ende des Tages dazu, dass alle überlebt haben. Womit man aber – da sich der Horizont ja mittlerweile auf Beppo-Strassenkehrer-Niveau bewegt (immer der nächste Besenstrich!) – nicht und niemals gerechnet hätte: Osterferien (Mooooment: Ostern? Ferien?). Die Schulen schweigen. Keine E-Mails mit Checklisten und Arbeitsaufträgen, keine per Schul-Fahrradkurier überbrachten Heftsendungen im Briefkasten. Die fragile neu gewonnene Routine dahin, die Nachkommenschaft sowieso in Meuterei-Laune (Ferien!). Was also tun?

Fotogeshoppte Mona Lisas

Zum Glück hatte da das GettyMuseum die rettende Quarantäne-Idee: Stellt in den eigenen vier Wänden mit Dingen, die ihr zuhause habt, Kunstwerke nach, und teilt sie mit uns. Ha! Das können wir auch! Challenge accepted! Der Nachwuchs hat keine Wahl, es muss ein Bild gesucht werden. Man versammelt sich um den Laptop des Haushalts und Elternteil tippt in den Google-Suchschlitz: «berühmte kunstwerke». Bildersuche. Es kommen: Die Mona Lisa, die Mona Lisa, nochmal die Mona Lisa, Van Goghs «Sternennacht», überhaupt viel Van Gogh, Munchs «Der Schrei» (Kind 1: «Das kenn ich!»), Botticellis «Die Geburt der Venus», Dürer: «Selbstbildnis», Michelangelos Sixtinische Kapelle und noch mehr Renaissance. Elternteil ergreift die Gelegenheit und doziert über Mona Lisa, die Renaissance, Monets Seerosen, Gauguin, Mondrian, die Arnolfini-Hochzeit, schliesslich sollen es die Kinder mal besser haben beim Postkarten-Test im Kunstgeschichtsstudium. Kind 2, begeistert: «Oh guck mal, das dort mit der Sonne! Das ist hübsch! Das können wir doch machen». Deutet auf ein Foto von einem roten Sonnenuntergang am Meer mit Pelikanen. Wie Pelikane nachgestellt werden sollen, ist unklar. Generell ist unklar, wieso der Algorithmus ein Strandfoto unter «berühmte kunstwerke» listet. Kind 1 amüsiert sich derweil über photogeshoppte Mona Lisas. Mona Lisa als Panda. Mona Lisa als Albert Einstein ... Und brandaktuell: Mona Lisa mit Maske. «Ich mach das!»

 

René Magritte: «Le fils de l’homme» (1964), Original und Tableau vivant.

René Magritte: «Le fils de l’homme» (1964), Original und Tableau vivant. Bild rechts: Kirstin Bentley; Bild links: akg-images/Album/Fine Art Images, © 2021, ProLitteris, Zürich

Kunstästhetisches Fail. Das Bildungsbürgertum rückt in weite Ferne. Elternteil verweigert die Pelikane und deklariert Masken als nicht verfügbar («Notstand, weisch»). Die Suche zieht sich hin. Der Vorschlag von Kind 1 zur Güte: Leonardo da Vincis «Abendmahl», frei nach dem Motto: «Wer bin ich und wenn ja, wie viele?» Auf den elterlichen Hinweis hin, dass drei Viertel der Belegschaft auf dem Bild mangels Personal nicht nachgestellt werden können, rollt man mit den Augen: «Oh maaaaann, Social-Distancing-Abendmahl, weisch, checksch nid?» Wohl nid. Kind 1: 100 Punkte. Nach etwas Internetrecherche zeigt sich jedoch, dass sich der Witz bereits etwas abgenutzt hat, das Bild wurde sogar schon als Renaissance-Zoom-Konferenz re-inszeniert. Auch der «Versuch eines Kompromiss»-Vorschlags, es doch alternativ mit Playmobil zu versuchen, erwies sich als schon umgesetzt. Playmobil geht offensichtlich immer. Keine Ballerinas und kein Rokoko Kind 2 freundet sich unterdessen mit der Venus an. «Voll schön, Mama!». Und schleppt schon die alte, ausrangierte, aber aus unerfindlichen Gründen noch gehortete Sandkastenmuschel aus Kleinkindtagen vom Balkon her. Unglücklicherweise ist aber Botticellis «Venus» das, was von Kind 2 ebenfalls seit Kleinkindtagen gerne als «Nackedeiel» bezeichnet wird. In Zeiten von Social Media «keine gute Idee», wendet das Elternteil ein. Zensiert. Neue Kriterien müssen her: Vom personellen und künstlerischen Aspekt her machbar UND bekleidet. Es ist kompliziert.

Picasso, Jackson Pollock und Paul Klee erweisen sich als zu abstrakt-schwierig, Rothko wird aus ähnlichen Gründen ebenfalls verworfen, obwohl Kind 1 die Frage aufbringt, ob man sowas mit Cornatur-Schnittchen und ein bisschen Lebensmittelfarbe nicht auch hinkriegen würde. Ähm. Nein. Elternteil schlägt ein Detail aus Hieronymus Boschs «Versuchung des Heiligen Antonius» vor, Idee: Kinder mit Trichter auf dem Kopf und angeklebter Hexennase. Abkömmlinge sind not amused, Gesichtsausdruck: unbezahlbar, Alpträume: inklusive. Elternteil gibt sich geschlagen, verwirft aber aus Rache alle schönen Ballerinas von Degas (das Tutu vom fünften Geburtstag passt eh nicht mehr!) und alles, was pastellfarbene Rokoko-Kleidung trägt (das Prinzessinnenkleid mit Reif auch nicht!). Es harzt. Kind 2 betätigt sich unterdessen als Kunstmalerin und kopiert in Neocolor auf Druckerpapier: Sonnenuntergang mit Pelikanen. Kind 1 und Elternteil gehen nochmals über die Bilder. Die Entscheidung fällt schliesslich auf «Apfel und Imperator».

Text: Kirstin Bentley

 


Episode 2:
Ausfallschritt mit Kleiderbügel

Darstellung des jährlichen Mond- und Sonnenlaufs (UB Basel, Mscr F III 15a, fol. 19r), Original und gebackenes Duplikat.

Darstellung des jährlichen Mond- und Sonnenlaufs (UB Basel, Mscr F III 15a, fol. 19r), Original und gebackenes Duplikat.

Es war keine gute Idee, sich als «Nachfüllbeutel» direkt hinter Kirstin in den Kaffeebohnenbehälter einzureihen und dann erst noch den Blogbeitrag bereits übers Wochenende vorzuverfassen, weil am Montag ja Homeoffice anstand. Denn: Genauso wie bei ihr geht es auch bei uns zu und her. Und genau davon hätte auch mein Text gehandelt. Da hilft nun nichts und mir bleibt nur, Kirstins wunderbare Realsatire mit Randund Interlinearglossen zu ergänzen.

Es ist in der Tat ein merkwürdiger Frühling, den wir gerade erleben! Sein Metrum erinnert mich an diese beeindruckenden Visualisierungen zur Darstellung von Wellenmustern: Wir alle waren daran gewöhnt, dass die Kugeln unseres Alltags in einem mehr oder weniger regelmässigen Muster schwangen und die gleichförmige Gewohnheit durch kaum etwas gestört wurde, bis plötzlich ein Körnchen in die Welle geriet, irgendwo weit weg, eine Fledermaus, ein Virus, ein Virunculus, eine winzige Coronula, die nach und nach alles durcheinanderbrachte. Die Kugeln pendelten zuerst irritiert, dann zunehmend frei und scheinbar willkürlich und ohne Ordnung. Wir blieben zuhause und befolgten Vorschriften, wir beschränkten unsere Kontakte aufs Minimum und beobachteten mit einer Mischung aus Scheu und Neugier, was geschehen würde.

Bügelbrett als Stehpult, Scrabble via WhatsApp

Dann begannen wir allmählich uns einzurichten: Homeoffice, Homeschooling, eine neue Alltagsroutine musste gefunden werden: Wer besetzt am Morgen als erste*r die Kaffeemaschine? Wer fährt in welcher Reihenfolge den Computer hoch, sodass das Netz nicht gleich in die Knie geht? Wer kauft die Mengen ein, die plötzlich benötigt werden, wenn niemand mehr auswärts isst? Wie viel vom Hemd muss gebügelt werden, wenn man auf dem Zoom-Bildschirm doch nur bis knapp unter die Rippen sichtbar ist? Die beschränkte Anzahl Quadratmeter der Wohnung dehnte sich in den virtuellen Raum aus, die Themen am Mittagstisch begannen schwieriger, aber auch interessant zu werden: Soll man dem Pflegepersonal vom Balkon aus Beifall klatschen oder ist das zynisch? Wie soll man damit umgehen, dass der betagte Onkel im Sterben liegt und man ihn nicht besuchen darf? Was wiegt ein Menschenleben in welchem Alter? Und was bedeutet die Krise für die Demokratie?

Wir wurden Expert*innen im Kurvenlesen und Reiskörner-Potenzieren, die Stay-Home-Situation wurde uns langsam zur Gewohnheit. Das Kugelpendel hatte zu einer geordneten Ruhe zurückgefunden, es begannen sich neue, auf eigene Weise bewährte Muster einzustellen: Das Bügelbrett dient jetzt als Stehpult (im Turnus benutzbar) und löst Rücken- und Hemdenprobleme gleichzeitig, das Fechttraining der Teenietochter findet online statt, als Degen-Ersatz dient ein Kleiderbügel (aktuelles Turnierresultat: minus 1 Lampe), hausinterne Geburtstagsgeschenke werden übers Küchenfenster abgeseilt, mit unseren Nachbarn spielen wir Scrabble per WhatsApp. Wie dabei unscheinbar Alltägliches immer wieder eine neue und überraschende Bedeutung gewinnt, ist eine der schönen Erfahrungen im Lockdown.

Inzwischen hat der Bundesrat den Fahrplan zur schrittweisen Rückkehr zur Normalität vorgegeben. Es wird sich wohl nicht vermeiden lassen, dass das Pendel erneut aus dem Takt und in Unordnung gerät, bis wir uns wieder an das ehemals Gewohnte gewöhnt haben. Und wenn kommende Woche der Präsenzunterricht wieder losgeht, werde ich mich, da bin ich mir sicher, ein bisschen einsam fühlen in einer Wohnung, in der kein Ausfallschritt mit Kleiderbügel mehr trainiert wird. P.S. Auch wir haben die Art Challenge für uns entdeckt; in einer Zeit des verwehrten Zugangs zum Handschriftenmagazin allerdings in Form des Handschriften-Nachstellens (siehe Abbildungen Mond- und Sonnenlauf links).

Text und Bilder: Theres Flury Arpagaus