GG 216

Isocratis Orationes omnes, quae quidem ad nostram aetatem pervenerunt, una et viginti numero, una cum novem eiusdem Epistolis, e Graeco in Latinum conversae, per Hieronymum VVolfium Oetingensem... Basel: Johannes Oporin August 1548. Fol.

In der Mitte zwischen dem ersten - und nicht firmierten - und dem zweiten griechischen Basler Isokratesdruck (von 1546 [GG 215] bzw. 1550 bei Isingrin), zwei Jahre vor der Bearbeitung und fünf Jahre vor dem Erscheinen der kleinen zweisprachigen Isokratesausgabe Hieronymus Wolfs von 1553 ([GG 218] mit Widmung vom Januar 1551) erscheint seine grosse lateinische Ausgabe. Vorangegangen war in lateinischer Übersetzung einzig der Druck Cratanders mit der Übersetzung Johannes Lonicers von 1529 (GG 214), 1540 am Wirkungsort Lonicers, in Marburg nachgedruckt. Wolf (Öttingen am Ries 1516 - Augsburg 1580) hat seine neue Übersetzung mit einer lateinischen Elegie auf der Titelseite eingeführt, in der er darauf hinweist, dass den Text griechisch die Gebildeten lesen möchten, den Ungelehrten seine Übersetzung dienen möge (Graeca legant docti, rudibus conversio servit/Nostra, polita minus, sed studiosa scopi). Gewidmet hat er sie am 13. Januar 1548 aus Strassburg im Hause des befreundeten Arztes Sebald Havenreuter den Bürgermeistern und dem Rat der Stadt Nürnberg (Havenreuter, 1508-1589, Sohn eines Nürnberger Zuckerbäckers, hatte dank Stipendien in Wittenberg studiert, war dann 1535 unter Camerarius Dozent der Dialektik und aristotelischen Ethik in Tübingen, wo Wolf zu seinen Schülern gehörte, und war, nach medizinischem Doktorat 1539, 1540 als Professor der Medizin und Stadtarzt nach Strassburg berufen worden). 

Er habe ihnen schon oft für seine glücklichen Jugendjahre, den Unterricht, die öffentliche und private Förderung danken wollen, doch keine Gelegenheit gefunden, beginnt er die Widmung, in der er sehr ausführlich auf die Probleme des Übersetzens allgemein und spezieller eingeht, da er bisher es nicht gewagt habe, etwas zu publizieren und sich nur dem Unterricht seiner Schüler gewidmet habe (Wolf hatte die Schule in Nördlingen besucht, war 1530 Schreiber auf Schloss Harburg, studierte, nach Aufenthalt in Nürnberg, 1537-39 in Wittenberg, war 1543-45 Rektor in Mühlhausen, nach weiterem Aufenthalt in Nürnberg kurzfristig in Tübingen, Strassburg, 1548 in Basel, wo er Oporin kennenlernte, 1550/51 dann als Präzeptor in Paris, zog 1551 einer ihm angetragenen Griechischprofessur in Basel die Stelle eines Sekretärs und Bibliothekars Jakob Fuggers in der Reichsstadt Augsburg vor, wo er dann 1557 Rektor des Gymnasiums zu St. Anna wurde). Er wisse nicht, ob es ihn reuen müsse. Nachdem nun aber Unglück ihm Musse gebracht habe (wenigstens das), habe er sich, auf Ermunterung durch die Leute, deren Wünsche er zu befolgen habe, an die Übersetzung der griechischen Autoren gemacht. Obwohl dies voller Arbeit und Mühsal, voller Gefahren, Neid und Spott der Verleumder sei, sei er guter Hoffnung. Denn da die Griechen in Beredsamkeit und Wissenschaften an erster Stelle stünden und die Römer fast alles ihnen verdankten, sei zu hoffen, dass die Studien der Jugend umso ertragreicher würden, je mehr sie sich mit den Griechen beschäftigten. Solche Übersetzungen dienten aber nicht nur denen, die schon zu alt seien, eine fremde Sprache zu lernen, sondern auch der Jugend beim Lernen des Griechischen. Wenigen würden Lehrer zuteil, die beide Sprachen beherrschten, wenigen genügend Zeit, an den Universitäten zu lernen, und keiner werde ohne private Arbeit hervorragende Kenntnisse in irgendeinem Fach erlangen. Bei diesem häuslichen Lernen und Üben sei für die Sachkenntnis nichts zuträglicher als gelehrte Kommentare, für das Sprachenstudium als getreue Übersetzungen. Das könne er aus seiner eigenen Jugend bezeugen. Denn nie hätte er das - wenige - was er könne ohne Hilfe gelehrter Übersetzer erreicht, die ihm, auch wenn sie ihn nicht immer befriedigt hätten, doch an vielen Stellen geholfen hätten. So hoffe er, mit viel Arbeit erreicht zu haben, den Griechischschülern einigen Nutzen zu bringen. Nun, da das Schicksal ihn ins dunkle Nichtstun verbannt habe, suche er Arbeit in dieser Musse, etwas, das der Allgemeinheit nütze. Den Anfang habe er mit der Übersetzung des Isokrates gemacht, dessen Qualität als Autor viele bezeugten. Darum habe er deren Zeugnisse und Lobestexte an den Schluss des Buches gestellt (auf den Index, die Castigationes, Annotationes und Gnomologiae Isocraticae Wolfs folgen - vor einem zweiten Index zu den Castigationes und Annotationes - Testimonia Platos, Ciceros und Juan Luis Vives', während Wolf für die Voten Plutarchs und des Dionys von Halikarnass hier extra auf deren Abdruck anschliessend an die Schriften selber, vor dem Index, hinweist). Seine Vorliebe für Isokrates habe ihn dabei angespornt. Und als er drei Reden übersetzt gehabt und sie zur Publikation den Ärzten und Philosophen Jakob Schegk (1511-1587, seit 1539 Professor für aristotelische Philosophie und Medizin in Tübingen) und Sebald Havenreuter (s. oben), Johannes Oporin (dem ehemaligen Basler Professor für Griechisch und Drucker dieser Ausgabe) und anderen gelehrten Freunden gezeigt habe, hätten die ihn ermuntert, das ganze Werk zu bringen. Das habe ihn überzeugt. Bedenken seien ihm dennoch gekommen, da nicht nur einige Reden schon übersetzt seien, sondern das ganze Werk schon in der Übersetzung des Lonicerus (Basel 1529) verbreitet sei. Er habe Angriffe auf ihn als proletarischer Schulmeister befürchtet. Da hätten jene Männer ihn bestärkt: solche Leute würden damit nur Verachtung ernten; er solle darauf sehen, den Studenten zu nützen, die schon lange nach einer eigenen, weniger dunklen, dem griechischen Wortlaut näheren, wahreren Übersetzung verlangten. Denn jene grossen Männer hätten sich kaum Zeit nehmen können zum Übersetzen, hätten nur so zum Vergnügen einmal eine kleine griechische Schrift übersetzt und sich dabei einige Freiheiten genommen, so dass sich bei genauerem Hinsehen oft nicht geringe Abweichungen zwischen Text und Übersetzung zeigten. Sie hätten sich nicht um das Urteil der Leser gekümmert, nur an die eigene Unterhaltung gedacht. Dann hätten sie, wie's so geschehe, auf Bitten von Freunden oder Verlangen von Druckern ihre privaten Spielereien publiziert, und vor zwanzig-dreissig Jahren (wir kommen damit auf die ersten Klassikerübersetzungen auch in Basel anfangs der 1520er Jahre: in Basel Oecolampad und Erasmus) sei Griechisches noch nicht so verbreitet und genau bekannt gewesen, dass nicht sogar ein gebildeter und scharfsinniger Mann ohne grösste Aufmerksamkeit leicht (was auch heute noch nicht wenigen passiere) in solch heiklen Sätzen und so mehrdeutigen Begriffen habe Fehler begehen können. Er, der nun alle seine Kräfte einem Werke widme, werde dies überwinden. Diese Worte hätten ihn überzeugt und von seinen Sorgen befreit. Denn die Erhabenheit des Inhalts, Eleganz, Rhythmus und Harmonie der Sprache des Isokrates hätten ihm Sorge bereitet, da man vom guten Übersetzer eines griechischen Autors erwarte, dass die Übersetzung in allem dem Original ebenbürtig sei, so, dass wer den Autor kenne, ihn auch ohne Nennung seines Namens sofort auch in der Übersetzung wiedererkenne. Und das würde er nicht vermögen. Da hätte man ihn jedoch damit getröstet, dass dies noch kaum ein Übersetzer erreicht hätte und auch die Verschiedenheit der beiden Sprachen es kaum erlaube. Er solle nur weiter klar den Sinn des Isokrates übersetzen, das würde den Studenten das Verständnis des Griechischen erleichtern, den anständigen Lesern willkommen sein. Von Übersetzern erwarte man eine Hilfe für den Inhalt, weniger Sprachglanz; den suche man bei den Autoren beider Sprachen selber. Die Gelehrten läsen lieber griechisch als eine noch so glänzende Übersetzung, den Jungen öffne er hingegen einen leichteren und freudigeren Zugang zum Griechischen. Auf solche Worte hin habe er sich an die Arbeit gemacht, mit allen Kräften, aber in widrigen Umständen: ohne festen Wohnsitz, ohne innere Ruhe, die ein Schreibender vor allem brauche, und ohne seine Bibliothek, in der alle seine Schätze und Freuden lägen, immer zur Hand zu haben, ohne genügend Zeit, die Isokrates selber zur Verfügung gehabt habe. Doch wenn ein Mäzen ihm zwei Jahre ohne andere Arbeit und Sorgen für einen grösseren Autor als Isokrates gebe - den er schon etwa zur Hälfte übersetzt habe - könne er zeigen, dass hier allenfalls weniger sein Können als Umstände und Freiheit gefehlt hätten, ähnlich wie Alciat dies beschrieben habe. Wenn deshalb ein empfindlicherer Leser hie und da Anstoss nehme, verstehe er das; auch er finde seinen Stil zuweilen roh. Er habe Gräzismen vermeiden wollen und sich um Latinität bemüht. Dennoch habe er nicht immer die passenden Wörter gefunden und nicht Zeit gehabt, immer genau nach dem ciceronianischen Begriff zu suchen. Den Sinn habe er hingegen immer genau wiedergegeben, möglichst auch Satzlänge und Wörterzahl nachgebildet. Fehler des griechischen Textes habe er recht viele beseitigt, nach genauester Prüfung. Dunklere Stellen habe er erklärt, dem eiligen Leser am Rand Stoffhinweise gegeben (im Textteil und in den Gnomologien). Den einzelnen Reden habe er, was der Archetyp nur für deren vier enthalte, Inhaltsangaben vorausgeschickt. Die Merksätze (gnomas) des Isokrates habe er für die jungen Leser getrennt zusammengestellt. Es werde sicher auch Junge geben, die meinten, das meiste kunstreicher sagen zu können; er bestreite das überhaupt nicht; und wenn er einst ruhigere Musse hätte, würde er sich bemühen, dass Isokrates griechisch und lateinisch kunstreicher erscheine (das ist 1551/1553 erfolgt). Die selben Leute dürften aber, bei einer getreuen Übersetzung des gesamten Werkes, ihre Hilflosigkeit gegenüber dem Reichtum der griechischen, um nicht zu sagen der Armut der lateinischen Sprache zu spüren bekommen und nicht immer das Gewünschte finden. Obwohl nämlich Unerfahrene nichts für leichter hielten als griechische Sätze in Wortwahl und Wortstellung lateinisch zu kleiden, würde er, bei freier Wahl, immer lieber Tausende von Zeilen frei selber schreiben als um vieles weniger mit gebundenen Händen in den Grenzen eines andern. Und wer behaupte, es sei leicht gewesen, nach so vielen Übersetzern einen nicht so schwierigen Autor zu übersetzen, der dürfte das nach einem sorgfältigen Vergleich seiner und der andern Übersetzungen mit dem griechischen Original und nach einem eigenen Versuch kaum mehr wiederholen. So hätten ihm die andern Übersetzungen kaum geholfen: viel verworrene und schwierige Stellen, die die andern ausgelassen oder ungenügend erklärt hätten, habe er dem griechischen Text entsprechend und allen verständlich wiedergegeben. Und wie er vor vielen Jahren zum Lernen sämtliche erreichbaren Übersetzungen eifrig gelesen und mit den Quellen verglichen habe, so tue er es auch jetzt, zwar nicht mehr als Schüler, obwohl er sein Leben lang lerne, sondern als sachlicher Begutachter. Er könne dies mit dem Nachweis vieler Fehler bei bedeutenden Übersetzern belegen, doch er wolle nicht andere beschmutzen. Worauf er auch die andern um solches Verhalten bittet. Er habe immer gewünscht, dass irgendein Gelehrter seinen Versuch zu einem glücklichen Ende führe, doch die meisten übersetzten nur wenige Zeilen, nicht ganze Werke. So habe er die Publikation beschlossen und seine Übersetzung Johannes Oporin zum Druck übergeben. Dieser sei einer der besten Drucker, würde aber dennoch bei genügend Musse lieber nicht fremde Arbeiten drucken, sondern eigene zu diesem Zweck verfassen und der Nachwelt hinterlassen.

Ihnen, den Behörden Nürnbergs, überreiche er, nach dem alten Brauch der Widmung, seinen Erstling als Dank für ihre Güte, die die Unruhen der Zeit ihnen kaum genommen haben dürften. Bei ihnen habe er als Knabe die Grundlagen seiner Studien erworben, und auch als er, nach dem Willen seiner Eltern, sich vom Studium der Philosophie einer andern Lebensweise habe zuwenden müssen (Harburg 1530, mit 14 Jahren), habe er Nürnberg nicht vergessen. Und sobald er sich wieder dem Studium der Literatur habe zuwenden können, habe er Nürnberg vor allen Universitäten den Vorzug gegeben. Schliesslich habe er, nach Vervollkommnung seiner Studien an verschiedenen Universitäten, bei seinem alten Lehrer Sebald Heiden in ihrer Hauptschule seinen ersten Unterricht gegeben und die Schüler in dem unterrichtet, was er selber von andern gelernt habe. Mehr als ihre bewundernswerten herrlichen öffentlichen und privaten Bauten, ihr Reichtum, die Kriegsrüstung, die zahlreichen geschickten Künstler, die Zahl der Bürger und Gäste, der Gelehrten jeder Art, die Berühmtheit ihres Marktes habe ihn nun ihre weise und menschliche Aristokratie berührt, nach der sie schon lange lebten und, so Gott wolle, auch in Zukunft leben würden. Diese kluge Politik in den Unruhen des Reiches und der Kirche sowie Wohltaten einzelner Bürger hätten ihn dazu gebracht, seine Heimat, in der er wenig Fortschritte gemacht habe, zu verlassen und ihnen zu dienen. Darum widme er ihrer Weisheit den Isokrates, der höchst berühmt sei für seine Vaterlandsliebe wie für das Gewicht seiner Ratschläge und seine Sprache. Bei der Lektüre dürfte ihnen nicht zuletzt Freude bereiten, dass er auch Ebenbilder der jetzigen Zeit biete und einen Staat, wie sie ihn führten, mit höchstem Lob bedenke. Bei der Lektüre des Panegyricus, des Areopagiticus, der Friedensrede würden sie - und er wisse, dass viele von ihnen in ihrer freien Zeit hierzu griffen - nicht so sehr Ratschläge des Isokrates als das Lob ihres eigenen Staates lesen.

Kürzere Vorreden hat Wolf sodann den Castigationes, den Annotationes und den Gnomologiae vorangestellt. In der ersten weist er sachentsprechend darauf hin, dass jeder um die schlechte Überlieferung der antiken Autoren wisse, dass dies die Professoren (in ihren Erklärungen an den Universitäten, versteht sich) und die Übersetzer mehr störe als die Studenten in ihrem Zuhause. Solche unverständliche Stellen würde leicht die Kollation einer alten korrekten Handschrift abhelfen, doch daran herrsche grosser Mangel. Er jedenfalls habe sich bei seiner Arbeit mit Brubachs Frankfurter Druck von 1540 begnügen müssen (hier allein dessen Seitenzahlen angegeben, obwohl sie von denen der Ausgabe Secers - in Hagenau 1533 - und der Basler - ohne Druckerangabe 1546 - leicht abwichen). Später, als er nach Basel gekommen sei, habe er die Ausgabe seines Oporin, die fast überall der (allerdings recht fehlerhaften) Aldine folge, obwohl seine Übersetzung schon im Druck gewesen sei, zwar sorgfältig, doch ohne allzu grossen Ertrag durchgelesen. Da er ohne sichere oder wenigstens wahrscheinliche Lesarten und Interpunktionen nicht zuverlässig habe übersetzen können, habe er sich bemüht, durch genaues Erwägen des Sinnes und des Kontextes der jeweiligen ganzen Rede die Richtigkeit einer Lesart zu beurteilen oder nicht ganz abwegig zu erraten. Gerechte Leser dürften das billigen: er ändere nicht die Schreibweise des Isokrates (was viele mit Recht für ein Verbrechen hielten) und halte seine Konjekturen nicht für Glaubenssätze (oracula), sondern lasse jedem seine freie Meinung. Er habe nichts anderes wollen, als den Studiosi nützen; falls er das nicht erreicht habe, möge man ihm verzeihen. Diesen Hauptteil des Druckes beschliessen ältere griechische und lateinische Elegien Wolfs und ein Geleitbrief von Strassburg 5. Januar 1548 an seinen Freund Johannes Müsler, mit einer weiteren Elegie, die er in dessen Haus geschrieben habe.

Seine Vorrede zu den Annotationes - einem knappen Kommentar - leitet Wolf sinnvoll mit sprachtheoretischen Überlegungen ein, die auf das Bedürfnis solcher Erklärungen hinweisen: Eine bunte und biegsame Sache sei die Rede, nicht selten dunkel oder zweideutig, und da Wörter zum Ausdruck von Dingen erfunden seien, sei es oft nötig, aus diesen Dingen selber die Bedeutung der Wörter herauszufinden. Das sähen alle ein, die nicht nur die griechischen und lateinischen Autoren, sondern auch die eigene Volkssprache näher betrachteten. Daher würden auch zuweilen durchaus gelehrte Übersetzer eine Bedeutung wiedergeben, mit der nicht alle Gelehrten einverstanden seien. Hin und wieder bringe auch der Leser quasi von zu Hause eine Bedeutung mit, mit der im Kopf er dann weder den Sinn der Worte noch das Gewicht der Aussagen kenne. Aus dem Grunde habe er die Stellen erklärt, die ihm dunkel wären oder wegen der Mehrdeutigkeit der Wörter unterschiedlich verstanden werden könnten, damit der Leser, wenn er wolle, seine Vermutungen kenne, oder sich sein eigenes Urteil bilde. Wenn Übersetzungen anderer von Reden ihm in die Hände gelangt seien, habe es ihn nicht verdrossen, auch deren Auslegung anzuführen. Noch viel weniger habe er sich gescheut, Gelehrte, so oft sich dazu Gelegenheit geboten habe, um Rat zu fragern (zu diesen gehörte gewiss Sebastian Castellio, dessen Censura über die erste Ausgabe und die Gnomologie vom April 1548 dann im "Isokratēs gnōmologētheis" von 1572 [GG 224] auf S. 814 abgedruckt ist). Denn er habe keineswegs nur auf seinem Urteil bestehen wollen. Er habe Erklärungen zu einzelnen Wörtern, zum Satzbau, zum Inhalt (historiae, fabulae) gegeben, um Isokrates verständlich zu machen. Übersetzung und Annotationes seien aber weder für die Gelehrten noch für Anfänger - denen nützten sie kaum viel -, sondern für einigermassen Fortgeschrittene, die noch in manchem unsicher seien, aber doch, was sie läsen, möglichst gut zu verstehen versuchten. Einem gründlichen Leser sollten bei der Lektüre keine Zweifel über das bleiben, was Isokrates habe sagen wollen. Wo sinnvoll, habe er daher Parallelen aus anderen Autoren angeführt, weniger bekannte Geschichten und Fabeln kurz berührt, solche, die schon den Kindern bekannt seien, übergangen. Solche finde man in allen sogenannten Elucidarii und Kinderlexika erklärt. Wer zu ernsthafteren Studien Isokrates lese und die Geschichten aus der Schulzeit vergessen habe, werde sich um Gewichtigeres und nicht zum Beispiel darum kümmern, wer der Vater des Eumolpus sei oder ob Pasiphae den Minotaurus aus einem Verhältnis mit einem Stier oder einem Sekretär gezeugt habe. Für Erklärungen historischer Passagen verweist Wolf darauf auf Plutarch, Diodorus Siculus und Aemilius Probus (unter dessen Namen waren die Biographien des Cornelius Nepos damals noch überliefert) und die älteren Herodot, Thukydides und Xenophon, bei denen man alles Nützliche finde. Er habe sich der Kürze beflissen, soweit nicht um der Verständlichkeit willen längere Ausführungen vonnöten gewesen seien. Wer die genannten Werke konsultiert habe, einige Kenntnisse in der griechischen Sprache besitze, sich nicht sträube, hin und wieder in Lexika und den Sprachkommentaren des Budaeus (sie waren 1529 in Paris und ein halbes Jahr später in sehr viel praktischerer Form in Basel [GG 41] erschienen) nachzuschlagen, der dürfte mit seiner Übersetzung und seinen Scholien kaum noch Grund finden, über Schwerverständlichkeit dieses Autors zu klagen. Jugendliche sollten bei Isokrates so vorgehen (falls sie seine Ratschläge brauchten), dass sie zuerst den griechischen Text läsen und überlegten, dann an einer verdächtigen Stelle seine Castigationes konsultierten, dann (so sie wollten) die Übersetzung und die Annotationes (diese seien ohne den Text des Autors daneben unfruchtbar und langweilig).

In der Vorrede zu seinen Gnomologien rechtfertigt er diese gegen voraussehbare Angriffe, die sie für überflüssig erklären dürften, mit Isokrates selber, bei dem er gelesen habe, wie die Dichter fleissig und sorgfältig Gnomen ausgesucht und verfasst hätten, und wie diese jetzt allgemein wie Edelsteine geschätzt würden (Theognis, Phokylides; Gnomensammlungen waren bis 1548 schon in Venedig und Basel erschienen). Er habe den Eindruck gehabt, auch Isokrates habe sich um solche bemüht, und es darum nicht für unnütz gehalten, für die Schüler solche aus dem Gesamtwerk zusammenzustellen. Worauf er auf einzelne Arten von Gnomen hinweist und den möglichen Vorwurf, diese Gnomen könne doch jeder selber im Text finden, damit entkräftet, dass er auch niemand daran hindern wolle und sich gar nichts darauf einbilde, aber es doch auch bezweifle, da es wenige geben dürfte, die Isokrates so oft und so sorgfältig wie er gelesen hätten. Und bei oberflächlicher Lektüre dürften sie einem leicht entgehen. Zudem habe er ausser eigentlichen Gnomen auch Gedanken und Beispiele aufgenommen und in Gnomenform umgesetzt. Wen solch kindliche Dinge abstiessen, der könne sich inzwischen mit der alchymistischen Herstellung von Gold oder, wenn er lieber wolle, mit der Quadratur des Kreises beschäftigen. - Dass gar nicht nur Kinder die Gnomologien dieser Ausgabe durchgearbeitet haben, zeigt das Basler Exemplar aus dem Besitz des dissidenten Theologen und keineswegs unbedeutenden Professors der Basler Universität Martin Borrhaus (1499-1564) mit seinen zahlreichen Notizen gerade in diesem Teil des Druckes, zeigt aber auch die Tatsache, dass die Gnomologien mit leicht abgewandelter Vorrede 1572 nochmals in den zweisprachigen Isokratēs gnōmologētheis aufgenommen worden sind.

Aus Besitz des Martin Borrhaus: B c II 75 Nr. 1

Bibliothekskatalog IDS

Signatur: Bc II 75:1

Illustrationen

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Titelseite

Buchseite

2alphar: Anfang der Vorrede des Hieronymus Wolf vom 13. Januar 1548.

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2alphav: Vorrede des Hieronymus Wolf, 2. Seite.

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3alphar: Vorrede des Hieronymus Wolf, 3. Seite.

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3alphav: Vorrede des Hieronymus Wolf, 4. Seite.

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4alphar: Vorrede des Hieronymus Wolf, 5. Seite.

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4alphav: Vorrede des Hieronymus Wolf, 6. Seite.

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5alphar: Vorrede des Hieronymus Wolf, 7. Seite.

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5alphav: Vorrede des Hieronymus Wolf, 8. Seite.

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6alphar: Vorrede des Hieronymus Wolf, 9. Seite.

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1Ar: Anfang der Oratio ad Demonicum des Isokrates.

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1aar: Anfang der Castigationes mit einer kurzen Vorrede des Hieronymus Wolf.